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Was ist Systems Engineering und wie funktioniert es?

Grundlagen der Produktentwicklung
Was ist Systems Engineering und wie funktioniert es?

Moderne technische Produkte sind heutzutage geprägt durch die immer tiefgreifendere Integration der verschiedenen Disziplinen wie Mechanik, Elektronik und Software. Man spricht heute davon, dass mechatronische oder gar intelligente Systeme entwickelt werden. Die Entwicklung solcher komplexen mechatronischen Systeme ist Ziel des Systems Engineering. Systems Engineering ist die Voraussetzung für die disziplinübergreifende Produktentwicklung, wenn sich praxistaugliche Lösungen ohne hohen Einführungsaufwand nutzen lassen.

Inhaltsverzeichnis

1. Was ist Systems Engineering?
2. Wie lange gibt es Systems Engineering?
3. Worum geht es beim Systems Engineering?
4. Welche Methoden von Systems Engineering gibt es?
5. Was sind die Aufgaben des Systems Engineering?
6. Welche Herausforderungen gibt es bei der Einführung von Systems Engineering?
7. Welche praktischen Anwendungen von Systems Engineering gibt es?
8. Was ist der Unterschied zwischen Advanced Systems Engineering und Systems Engineering?
9. Welche Normen und Richtlinien gibt es im Zusammenhang mit Systems Engineering?

Was ist Systems Engineering?

Der kleinste gemeinsame Nenner der Fachwelt findet sich in der durch das International Council on Systems Engineering (INCOSE) geprägten Definition – hier in der deutschen Übersetzung: Systems Engineering ist „Ein interdisziplinärer Ansatz und ein Mittel, die Verwirklichung erfolgreicher Systeme zu ermöglichen. Der Ansatz zielt darauf, Kundenbedürfnisse und die notwendige Funktionalität früh im Entwicklungsprozess zu definieren, die Anforderungen zu dokumentieren und dann unter Berücksichtigung des Problems in seiner Gesamtheit mit dem Systementwurf und der Abstimmung mit dem Kunden fortzufahren. Systems Engineering betrachtet sowohl die wirtschaftlichen als auch die technischen Bedürfnisse des Kunden, mit dem Ziel, ein qualitativ hochwertiges Produkt zu erzeugen, das den Bedürfnissen der Nutzer gerecht wird.“ (INCOSE)

Systems Engineering ist eine eigene Fachdisziplin, die die Vorgehensweisen der anderen Fachdisziplinen sinnvoll miteinander verknüpft. Dabei bezieht sich das nicht nur auf die technischen Fachbereiche, sondern geht weit darüber hinaus. Und selbst wenn es um die Entwicklung eines technischen Systems geht, dürfen die Betrachtungsgrenzen nicht zu eng gezurrt sein. Die ISO/IEC 15288:2008(E) – Systems and software engineering – System life cycle processes (kurz ISO/IEC 15288:2008) stellt hierzu ein umfangreiches Repertoire wesentlicher Prozesse zusammen, die der Arbeit des Systems Engineers einen Rahmen geben. Sie reichen von den Technischen Prozessen hin bis zu Aspekten des Personal-Managements. Damit diese Prozesse gelebt werden können, hat sich bis heute in der Luft- und Raumfahrt ein umfangreicher Systems-Engineering-Werkzeugkasten entwickelt, der auch für viele andere Branchen nutzbar ist. Das beginnt bei einfachen N2-Matrizen zur Darstellung der Abhängigkeiten zwischen einzelnen Aspekten und geht hin bis zu dem seit geraumer Zeit diskutierten Model-Based Systems Engineering (MBSE).

Wie lange gibt es Systems Engineering?

Systems-Engineering gibt es seit über 50 Jahren als eigenständige Disziplin. Der erste bedeutende Einsatz von „Systems Engineering“ fand 1940 in den Bell Laboratories bei der Telefonie statt. Die verschiedenen Teile des Telekommunikationssystems mussten und müssen sehr gut interagieren, was nur durch ein umfangreiches Systemverständnis und genaue Spezifikation der Anforderungen möglich wurde. In den USA wurden die Ansätze anschließend maßgeblich durch die NASA genutzt und weiterentwickelt. Im deutschsprachigen Raum wurden ähnliche Konzepte meist unter den Begriffen Konstruktionssystematik und auch Systemtechnik zusammengefasst. Insbesondere seit Gründung der INCOSE gibt es starke Anstrengungen zur Vereinheitlichung des Systems Engineering, zum Beispiel durch die ISO/IEC 15288 oder ISO/IEC 42010.

Thomas Kriegel zum Systems Engineering bei Audi

Worum geht es beim Systems Engineering?

Im Kern geht es beim Systems Engineering darum:

  • die Kommunikation und Kooperation zwischen den Entwicklungsbeteiligten zu verbessern
  • ein einheitliches Aufgaben- und Systemverständnis aller Beteiligten zu erreichen sowie
  • disziplinübergreifende Entwicklungsaufgaben erkennen und lösen

Welche Methoden von Systems Engineering gibt es?

Das Model-Based Systems Engineering (MBSE) setzt für die Umsetzung dieser Nutzenpotenziale auf die modellbasierte Beschreibung des Systems. Das Systemmodell beschreibt Anforderungen, Funktionen und Lösungselemente des zu entwickelnden Systems. Das INCOSE definiert MBSE als die formalisierte Anwendung der Modellierung von Systemen zur Unterstützung sämtlicher Prozesse und Aufgaben im gesamten Produktlebenszyklus. Das umfasst etwa die Herausarbeitung von Kundenwünschen, die Beschreibung von Systemanforderungen, Modulspezifikationen und anderem, aber auch die Unterstützung von Design, Analysetätigkeiten sowie Verifikation und Validierung. MBSE ersetzt allerdings nicht die etablierten Aktivitäten der Systemarchitekten und Fachdisziplinen – es stellt sie auf eine neue Basis, erlaubt die reibungslosere Zusammenarbeit, schafft mehr Transparenz und ermöglicht im Idealfall eine Entwicklung nach dem Prinzip ‚1st Time Right’.

Beim Closed-Loop Engineering Ansatz geht es um die Integration fortschrittlicher V/V-Techniken und Informationsrückmeldungen in MBSE, um kürzere Entwicklungszyklen, höhere Qualität und die Erstellung von Systemen zu ermöglichen, die besser für ein bestimmtes Anwendungsszenario geeignet sind. Wichtige V/V-Techniken:

· Model-in-the-Loop bezeichnet die Überprüfung des Systemdesigns in Bezug auf Architektur und Verhalten sowie die frühzeitige Validierung von Teillösungen oder Systemkomponenten auf Basis lauffähiger Systemmodelle.

  • Twin-in-the-Loop bezieht sich auf die Validierung des digitalen Zwillings eines Produkts oder eines Systems und seiner Verwaltungsplattform durch eine Integration von ausführbaren Systemmodellen und der Verwaltungsplattform (IoT) der digitalen Zwillinge.
  • System-in-the-Loop bezieht sich auf den Ansatz, tatsächliche Produktnutzungsdaten in Kombination mit Systemmodellen zu verwenden, die über digitale Zwillinge verbunden sind, um das Betriebsverhalten und die Leistung des Systems zu analysieren und Verbesserungen in Bezug auf Rekonfiguration und/oder Designänderungen für zukünftige Systemgenerationen zu implementieren.

Kognitives Systems Engineering sieht den Menschen als Teil des Systems. Kognitives Systems Engineering hängt stark mit den Erfahrungen, die über Jahrzehnte in den Anwendungen der beiden Teilbereiche Kognitive Psychologie und Systems Engineering gemacht wurden, zusammen. Kognitives Systems Engineering hat sich stark auf das Erforschen der Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt fokussiert, ebenso sollen Systeme entwickelt werden, die das menschliche Denken integrieren. Kognitives Systems Engineering arbeitet an den Punkten:

  • Probleme die durch die Umwelt auftreten
  • Notwendigkeit von Vermittlern (Mensch und Software)
  • Interaktion der verschiedenen Systeme und Technologien, um die Situation beeinflussen zu können.

Was sind die Aufgaben des Systems Engineering?

  • Definition und Planung der Systems-Engineering-Aufgaben und Fortschrittsbewertung zur Berichterstattung an das Projektmanagement;
  • Anforderungsanalyse, Anforderungsdefinition und Anforderungsmanagement, die Grundlage der Systementwicklung;
  • Systemdesignoptimierung (Modellbildung, Simulation und Bewertung), die Entwicklung des Systems;
  • Systemdokumentation (Funktionsbeschreibungen, Zeichnungen, Handbücher usw.);
  • Konfigurationskontrolle/Änderungswesen, in der Entwicklung gibt es oft Veränderungen, die in alle Dokumente bis zur Fertigungszeichnung nachvollziehbar eingepflegt werden müssen;
  • Systemintegration (Schnittstellen-Spezifikation beziehungsweise -Produktentwicklung), um eine perfekte Einbindung in das nächstgrößere System zu gewährleisten;
  • Systemverifikation und -validation, um sicherzustellen, dass die Anforderungen erfüllt wurden;
  • Risikomanagement durch periodische Soll- / Ist-Vergleiche für kritische Parameter (Masse, elektrische Leistung, SW/Programm Laufzeit/Größe usw.);
  • Produkt- und Qualitätssicherung (z. B. Fehlerbäume, Fehleranalyse, FMEA);
  • Nachhaltige Entwicklung, nachhaltig sollte jedes System entwickelt werden.
  • Je nach Komplexität und Projektphase des zu entwickelnden Systems sind die Aufgabenschwerpunkte und Inhalte verschieden.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Einführung von Systems Engineering?

  • Schlecht quantifizierbarer Nutzen: Studien zufolge ist das Haupthindernis bei der Einführung von Systems Engineering, dass der Nutzen von SE nicht ausreichend quantifizierbar ist. Gerade zu Beginn eines Projekts bedeutet SE einen höheren Aufwand und der generelle Nutzen ist zwar für viele Beteiligte verständlich, aber nur schwer mit konkreten Kennzahlen zu belegen. Vorhandene Untersuchungen zum Thema sind eindeutig, diese im eigenen Unternehmen nachzubilden würde jedoch viel Zeit in Anspruch nehmen. Das stößt gerade im Management immer wieder auf Skepsis und die Bereitschaft Geld und Personal zu investieren ist gering.
  • Fehlendes Expertenwissen und Einführungsmethoden: Die Einführung von SE setzt immer ein gewissen Grad an Know-how und auf das Unternehmen zugeschnittene Methoden voraus. Vielen fällt es schwer, zu erkennen, welche Methoden an welcher Stelle Sinn ergeben und welches der beste Zeitpunkt für einzelne Veränderungen ist. Es entsteht das Gefühl, dass der SE-Ansatz für das eigene Unternehmen oder Produkt nicht geeignet ist, was jedoch in den seltensten Fällen stimmt. An diesem Punkt kommt das fehlende Expertenwissen ins Spiel. Weiterbildungen für die Mitarbeiter sind kosten- und vor allem zeitintensiv und das Ingenieursstudium reicht häufig nicht aus, um interdisziplinären Anforderungen gerecht zu werden. Das führt dazu, dass es innerhalb des eigenen Unternehmens nur wenig, bis gar keine SE-Experten gibt, mit deren Hilfe eine Einführung umgesetzt werden kann.
  • Starre Strukturen und Prozesse: Insbesondere in großen Unternehmen sind Abteilungen und Prozesse fest verankert. Die Trennung der Entwicklungsabteilungen erfolgt dabei oftmals klassisch nach den Disziplinen Maschinenbau, Elektronik, Softwaretechnik. Neben diesen starren vertikalen Strukturen erschweren horizontale Hierarchien Entscheidungsprozesse. Zudem ist es häufig nicht möglich, bestehende Prozesse einfach im Rahmen der SE-Einführung zu ersetzen. Ganz im Gegenteil: All diese Faktoren bilden Rahmenbedingungen innerhalb derer SE-Ansätze integriert werden können. Eine erfolgreiche Veränderung in diesem Umfeld benötigt intensives Change Management.
  • Silodenken: Das Engineering ist immer noch geprägt von disziplinspezifischem Denken – auch bedingt durch die starren Organisationsstrukturen. Um ein komplexes System mithilfe von SE erfolgreich einzusetzen, ist es wichtig, dass die Beteiligten zusätzlich zu der Expertise in ihrem Fachbereich ein ganzheitliches Systemverständnis entwickeln und das Denken in Silos aufgebrochen wird. Dabei steht sowohl die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb eines Unternehmens als auch über die Unternehmensgrenzen hinaus im Fokus.
  • Parallele Umstrukturierung: Zu guter Letzt stehen die Unternehmen bei der Einführung vor der großen Herausforderung, die bereits genannten Aspekte parallel zu managen. Neben dem zeitlichen Aspekt, die richtigen Veränderungen zum richtigen Zeitpunkt anzustreben, gilt es, Akzeptanz sowohl bei den Mitarbeitern als auch vielen weiteren Stakeholdern (Management, Entwicklungspartner, …) zu schaffen. Ein Wandel der Unternehmenskultur ist dann in vielen Fällen unverzichtbar – geeignete Change-Management-Techniken spielen hier eine große Rolle.

Matthias Knoke und Lukas Bretz zu SE-Erfahrungen bei Miele

Welche praktischen Anwendungen von Systems Engineering gibt es?

Für eine durchgängige Beschreibung des zu entwickelnden Systems ist es wichtig abgestimmte Prozesse, Methoden und Tools (PMT) für Analyse und Entwicklung auf System- und Implementierungsebene zu nutzen. Eine Möglichkeit zur durchgängigen Beschreibung des Verhaltens und der Struktur des Systems besteht in der Nutzung von Konzepten des Model-Based Systems Engineering. Als Modellierungssprache kann dabei die SysML dienen, welche auf der Grundlage der UML entwickelt wurde, oder eine eigens spezifizierte Domänenspezifische Sprache. Derzeit gibt es eine Reihe von kommerziellen und Open Source Tools die spezifische SysML Implementierungen auf Basis der SysML v1.x anbieten (z. B. Enterprise Architect von SparxSystems, IBM Rational Rhapsody, Eclipse Papyrus, Cameo Systems Modeler von Dassault etc.). Idealerweise erlaubt die eingesetzte PMT Lösung eine durchgängige und nachvollziehbare Systementwicklung vom Anforderungsmanagement über das System-Modell bis hin zur Verifizierung und Validierung.

Was ist der Unterschied zwischen Advanced Systems Engineering und Systems Engineering?

Parallel zum Systems Engineering entwickeln sich kontinuierlich neuartige Ansätze eines Advanced Engineerings, die sowohl die Arbeitsmethoden (z.B. Agilität) als auch die IT-Werkzeuge (z.B. KI-Algorithmen im 3D-CAD) maßgeblich beeinflussen. Das Zusammenwirken und die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Handlungsfeldern des Systems Engineerings und Advanced Engineerings erfordern in den Unternehmen ein Überdenken der Arbeitsweise. Neben menschorientierten Aspekten (z.B. Mitgestaltung) sind insbesondere die kontinuierliche Veränderungsbereitschaft bezogen auf die Engineering-Prozesse, -Organisation oder auch -Methoden und -IT-Werkzeuge von entscheidender Bedeutung. ASE hat hierbei das Ziel, die vielfältigen Aspekte des Systems Engineerings und Advanced Engineerings zu integrieren. Es richtet sich dabei an Unternehmen aller Branchen, die im Wandel der Wertschöpfung ihre Wettbewerbsfähigkeit mit innovativen Technologien, Systemen sowie Geschäftsmodellen sichern bzw. steigern wollen.

Normen, Richtlinien und Begriffe des Systems Engineering

Welche Normen und Richtlinien gibt es im Zusammenhang mit Systems Engineering?

  • VDI 2206: Entwicklung mechatronischer und cyber-physischer Systeme
  • ISO/IEC 15288: Systems and software engineering – System life cycle processes
  • ISO/IEC 29110: Systems and Software Life Cycle Profiles and Guidelines for Very Small Entities
  • ISO/IEC/IEEE 42010: Systems and Software Engineering – Architecture Description

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Quellen:

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