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Treiber der digitalen Transformation bei Audi

Treiber der digitalen Transformation
Thomas Kriegel zum Systems Engineering bei Audi

Audi hat eine groß angelegte Systems-Engineering-Initiative gestartet, die das Unternehmen fit machen soll für anspruchsvolle Themen wie das autonome Fahren. Als Orientierungshilfe für die Neugestaltung der PLM-Landschaft und -Prozesse diente dem Projektteam dabei das von erfahrenen PLM-Experten formulierte Future-PLM-Thesenpapier der Prostep iViP Association (siehe Info Kasten). Thomas Kriegel, Leiter Prozess-und Methodenentwicklung Systems Engineering bei Audi, erläutert den praktischen Nutzen der Thesen.

Interview: Michael Wendenburg, Fachjournalist, Sevilla

KEM Konstruktion: Herr Kriegel, was ist die Zielsetzung der Systems-Engineering-Initiative? Welche Herausforderungen wollen sie damit adressieren?

Thomas Kriegel: Wir wollen mit Systems Engineering nicht nur die Komplexität der Produktentwicklung besser beherrschbar machen, sondern auch die Nachverfolgbarkeit unserer Entwicklungsschritte sicherstellen, die gerade für neue Themen wie das autonome Fahren extrem wichtig sind. Es gibt bereits seit längerem bei Audi einzelne Funktionen, die mit Systems-Engineering-Methoden entwickelt werden. Für komplexere Produktentwicklungen wie das hochautomatisierte Fahren reicht es aber nicht mehr aus, einzelne Funktionen damit zu entwickeln. Wir müssen sie mit dem Backend-IT-System und damit Connected-Car-Diensten verbinden, eventuell auch Third-Party-Anbieter einbinden. Dazu müssen wir es schaffen, dass alle Disziplinen das Systems Engineering nach derselben Methodik einsetzen.

KEM Konstruktion: Welche Funktion hatten die Future-PLM-Thesen (siehe Kasten) für die Initiative ‚Audi Systems Engineering‘? Lieferten sie nur Denkanstöße oder dienten sie als Leitfaden?

Kriegel: Wir adressieren mit dem Audi Systems Engineering den Dreiklang aus Prozessen, Methoden und IT-Tools. PLM ist da zunächst nur eine Facette – die der Tools. Die PLM-Thesen gehen jedoch deutlich über die klassischen Tools hinaus und decken viele weitere Aspekte ab, die für uns wichtig sind. Sie haben uns dabei unterstützt, unser Programm inhaltlich runder zu machen. Im Thesenpapier sind meines Erachtens alle Erfolgsfaktoren aufgeführt, die zu berücksichtigen sind.

KEM Konstruktion: Welche Thesen waren für Sie besonders hilfreich?

Kriegel: Sehr wichtig fanden wir die Thesen zum Thema digitale Transformation, weil der kulturelle Wandel ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, auch wenn er schwer zu greifen ist. Nur die Technik zu diskutieren reicht nicht aus, denn wir müssen bei Audi in der Technischen Entwicklung rund 10.000 Mitarbeiter auf diesem Weg mitnehmen. Was uns außerdem sehr geholfen hat, ist die klare Aussage, dass monolithische Systeme ausgedient haben. Das war sehr hilfreich, weil in vielen Köpfen immer noch die Vorstellung steckt, dass man alles mit einem bestimmten System lösen könne. Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass das mit einem monolithischen Ansatz nicht funktionieren kann, dass es ein Konzert vieler Prozesse und Tools sein wird. Damit war gleichzeitig klar, dass wir das nicht mit ein paar Mitarbeitern stemmen können, sondern dafür mehrere Hundert Mitarbeiter aktiv involvieren müssen.

KEM Konstruktion: Gab es weitere wichtige Thesen beziehungsweise Themenschwerpunkte?

Kriegel: Was uns sehr interessiert hat, war die anwendungsorientierte Sicht, die in These 21 zum Ausdruck kommt: Future PLM steht und fällt mit dem Mehrwert für den Anwender. Die Anwender in der Entwicklung, das heißt unsere Entwicklerinnen und Entwickler, können künftig gezielter die Anforderungen unserer Kunden noch besser verstehen. Schließlich erhalten sie über die Daten, die im Fahrzeug aufgenommen werden, mehr Informationen über reale Fahrsituationen und können diese statistisch auswerten – Stichwort Big Data. Erprobt wird das zunächst für unsere Entwicklungsfahrzeuge. Ob und wie das künftig auch für Kundenfahrzeuge genutzt werden kann, wird sich durch Gesetzgebung und gesellschaftlichen Diskurs noch zeigen.

KEM Konstruktion: Welche konkreten Handlungsanweisungen haben Sie aus den Thesen abgeleitet?

Kriegel: Einer der ersten Maßnahmen war eine Ist-Analyse, auf deren Basis wir eine prozessuale Architektur entwickelt haben. Wir haben ein Zielbild entworfen, das in unserem V-Modell zum Ausdruck kommt. Dieses Modell ist oberflächlich betrachtet nicht grundsätzlich neu, in der dahinter stehenden Entwicklungslogik und -methodik jedoch radikal anders. Wenn Sie in der Vergangenheit durch die Organisation gegangen sind, gab es viele verschiedene Entwicklungs-Vs. Das machte es sehr schwer, bei 10.000 Entwicklern und externen Entwicklungspartnern ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Die Vereinheitlichung unserer Begriffswelten gehört deshalb zu den vordringlichsten Aufgaben, und auch zu erklären, warum wir dahin wollen und welche Vorteile wir uns davon versprechen.

KEM Konstruktion: Konnten Sie die zu erwartenden Nutzeneffekte denn quantifizieren?

Kriegel: Wir haben deutliche Kostenpotentiale aufgezeigt. Der größte Business Case kommt aber nicht aus einem einzelnen Prozess, sondern aus dem Ineinandergreifen der Prozesse. Stichwort: Ein gutes Requirements-Management erspart viele Probleme in der späteren Absicherung.

KEM Konstruktion: Welches sind die wichtigsten Handlungsfelder mit Blick auf Systems Engineering?

Kriegel: Kommunikation an die Mitarbeiter über den Sinn der Initiative ist essentiell. Das Zweite ist, dass wir durch viele Gespräche mit den Mitarbeitern ermittelt haben, welche Skills wir im Hause haben und an welcher Stelle wir noch zusätzliche Qualifizierungsangebote anbieten möchten. Das Dritte ist, dass wir einen Referenzprozess für die interdisziplinäre Produktentwicklung aufbauen. Und natürlich brauchen wir eine modulare IT-Architektur, die es uns erlaubt, die Anforderungen in den Fahrzeugprojekten flexibel zu erfüllen – etwa um Alt- durch Neusysteme flexibler austauschen zu können. Da sind wir auf einem guten Weg.

KEM Konstruktion: Wie wird denn die PLM-Architektur künftig aussehen und wie wollen Sie das Problem zwischen Alt und Neu lösen?

Kriegel: Das definieren wir gerade in unserem Programm Audi Systems Engineering. Und wir tun das als Bestandteil des VW-Konzerns. Es gibt nicht nur in der Marke, sondern auch im VW-Konzern sogenannte Legacy-Systeme und damit eine höhere Komplexität als bei anderen OEMs. Wir erleben ständig neue Konstellationen der Zusammenarbeit im Konzern, mit Joint Ventures oder angeschlossenen Partnern, und müssen unsere Systeme jedes Mal aufeinander abstimmen. Deshalb können wir uns keine PLM-Architekturen mehr leisten, die in sich gekapselt sind. Ohne Berücksichtigung offener Standards wären wir im Konzern schon nicht mehr arbeitsfähig. Deshalb fordern wir Offenheit im Sinne des Code of PLM Openness.

KEM Konstruktion: Wie weit werden Sie neue Konzepte der Daten-Verlinkung nutzen, um die Transition von Legacy- zu Neusystemen zu bewältigen?

Kriegel: Da diskutieren wir gerade mehrere Konzepte, aber wir glauben, dass es auf eine klare Trennung von Datenhaltung und Workflow-basierten Systemen hinauslaufen wird. Wenn wir über zukünftige Vernetzung sprechen, müssen alle Daten in einem Data Lake verfügbar sein. Wir müssen semantische Netze aufbauen, um Daten und Workflows flexibel miteinander verlinken zu können. Wir denken auch über neue Middleware-Lösungen nach, in die wir verschiedene Systeme einklinken und über denen wir anwenderbezogene, kontext- und rollenbasierte Dashboards oder Apps aufmachen. Das hätte zum einen den Vorteil, dass wir Alt- und Neusysteme gleichzeitig im Betrieb haben und vielleicht im laufenden Fahrzeugprojekt auswechseln könnten. Zum anderen erlauben kontext- und rollenbasierte Dashboards dem Anwender, seinen Arbeitsplatz zu gestalten und auf seine täglichen Bedürfnisse spezifisch einzugehen. Er hat dann alle Daten, Workflows im Blick, ohne sich in der Vielzahl von Systemen und Daten zu verirren. Das ist eine gänzlich andere Architektur als heute. Deshalb verfolgen wir einen sehr offenen Ansatz und schauen uns die besten Lösungen an, die es derzeit am Markt gibt.

KEM Konstruktion: Wie wollen Sie das interdisziplinäre Denken in die Köpfe der Anwender bringen?

Kriegel: Wir sind seit längerem im intensiven Dialog mit Anwendern und Management. Die Anwender wollen und müssen fachbereichsübergreifend noch stärker zusammenarbeiten. Der Wille ist von allen Seiten da. Die Herausforderung besteht darin, einen strukturierten Weg aufzuzeigen, wie man das trotz laufender Projekte schaffen kann. Der modellbasierte Systems-Engineering-Ansatz (MBSE) steht dazu klar im Fokus. Wir werden großflächige und tiefgreifende Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, auch für Anwender, die nachher nicht unbedingt als Systemingenieure arbeiten. Das ist notwendig, um die Idee des Systems Engineerings als gesamthafte Entwicklungslogik zu verstehen und eigenverantwortlich im Gesamtkontext handeln zu können. Mit dem Systems Engineering werden sich sehr viele Prozesse und Kompetenzen verändern.

KEM Konstruktion: Wo sollen die Fahrzeugdaten zusammenlaufen und ausgewertet werden und wie sollen sie in die Entwicklung zurückfließen?

Kriegel: Es gibt heute schon eine Unmenge von Informationen im Fahrzeug, die wir in unseren Entwicklungsfahrzeugen erfassen. Zudem konzipieren wir in Zusammenarbeit mit unseren Partnern zurzeit IoT-Plattformen, um solche Daten weltweit erfassen, auszuwerten und anonymisiert in die Entwicklung zurückspielen zu können. Das Ganze wird jetzt Stück für Stück pilotiert und soll dann industrialisiert werden. Das ist eine riesige Herausforderung, die wir wahrscheinlich nicht allein werden bewältigen können. Das Konzept der OEM-übergreifenden Here-Plattform ließe sich durchaus auf solche IoT-Plattformen übertragen.

KEM Konstruktion: Sie haben auch die These aufgegriffen, dass Future PLM kein IT-Projekt sein darf. Was bedeutet das für Ihre Vorgehensweise?

Kriegel: Wir wollen in der Entwicklung unserer Prozesse, Methoden, Tools – kurz PMT – vom reinen Wasserfall-Modell wegkommen und agil werden. Das heißt, wir wollen die Sprints nutzen, um mit allen relevanten Stakeholdern in zwei- bis dreiwöchigen Workshops die Prozessstandards zu definieren. Die Teilnehmer müssen also mit der nötigen Richtlinienkompetenz ausgestattet sein, um das in ihre Fachbereiche tragen zu können. Das realisieren wir mit so genannten Prozesswerkstätten und Projekthäusern, die im Tages- oder Wochenrhythmus neue Prozesse etwa für das Anforderungsmanagement definieren und sich auch zur Einhaltung verpflichten. Auf dieser Basis kann die IT erste MVPs (Minimal Viable Products) erstellen und dem Kreis der Workshop-Teilnehmer präsentieren. Es geht darum, nicht immer gleich den Endzustand zu definieren, sondern mit 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent des Funktionsumfangs zu beschreiben, in IT zu gießen, in die Praxis zu überführen und zu testen – dann erst den nächsten Schritt zu machen. Das ist ein gänzlich verändertes Vorgehen. Prozesse, Methoden und Tools sind hochkomplex miteinander vernetzt und müssen iterativ umgesetzt werden. Es geht um Speed.

www.audi-akademie.de

Zum Thesenpapier Future PLM der Prostep iViP Association:

http://hier.pro/qKNAE


„Wenn wir über zukünftige Vernetzung sprechen, müssen alle Daten in einem Data Lake verfügbar sein. Wir müssen semantische Netze aufbauen, um Daten und Workflows flexibel miteinander verlinken zu können.“

Thomas Kriegel, Leiter Prozess-und Methodenentwicklung Systems Engineering, Audi
Bild: Thomas Kriegel/Audi

info

Thesenpapier Future PLM

Hat PLM im Zeitalter der Digitalisierung eine Zukunft? Systemeinführung und Betrieb eines PLM-Systems sind schon kostenintensiv und nach Einschätzung des PLM-Experten John Stark scheitert jedes zweite PLM-Projekt. Die Vernetzung von Produkten und Services über das Internet of Things (IoT) wirft deshalb die Frage auf, ob PLM damit nicht vollends überfordert ist. Ist PLM – so wie wir es heute kennen – also ein Auslaufmodell, das durch Linked Data, Big Data oder selbstlernende Systeme obsolet wird? Oder anders gefragt: Wie muss sich PLM verändern, um die Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation optimal unterstützen zu können? PLM-Experten von Anwendungsunternehmen, Softwareherstellern, Beratungshäusern und Hochschulen haben diese Fragen auf Anregung von Conweaver in einem Workshop diskutiert und dazu eine Reihe von Thesen zu Future PLM aufgestellt, um damit die Diskussion zu Anforderungen und Lösungsansätzen anzustoßen. Autoren dieses Thesenpapiers sind Sylke Rosenplänter (Opel), Bodo Machner (ehemals BMW), Thomas Kamps (Conweaver), Karsten Theis (Prostep), Martin Eigner (TU Kaiserslautern) und Fachjournalist Michael Wendenburg. Sie sind sich einig, dass es eine andere Art von PLM braucht. Das Papier fasst 22 Thesen zusammen und fordert die Leser auf, es zu kommentieren und öffentlich zu diskutieren. Es ist verfügbar unter:

http://hier.pro/qKNAE

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