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GenAI verändert das Engineering

KI und GenAI im Engineering
GenAI-Tools revolutionieren die Produktentwicklung

Generative Artificial Intelligence (GenAI) wird unsere Ingenieursarbeit umkrempeln. Das Fraunhofer IEM testet die aktuellen Tools derzeit auf Herz und Nieren – und fragt: Was können die AI-Tools für die Produktentwicklung leisten? Dabei entstehen spannende Visionen und sehr konkrete Handlungsempfehlungen für Unternehmen, die durch den Einsatz von GenAI im Wettbewerb künftig vorn liegen wollen.

Roman Dumitrescu, Tommy Falkowski, Aschot Hovemann und Rik Rasor, Fraunhofer IEM

Inhaltsverzeichnis

1. KI im Engineering nutzen
2. Von ChatGPT zur eigenen GenAI-Lösung
3. Drahtseilakt: Umgang mit den Daten
4. Vorteile durch gezielte Kooperationen
5. In fünf Schritten zum erfolgreichen Einsatz von GenAI
6. Engineeringkompetenzen weiterhin wichtig und gefragt
7. Hannover Messe 2024: GenAI für die Produktentwicklung

Eine Autostadt im Jahr 2050. Es trifft sich: Die Engineering-Task-Force für den neuen Electra Quantum X. “Kommen wir zum Motor”, sagt die Chefingenieurin. „Analysen zeigen: Die höchste Effizienz erreichen wir mit dieser Spulenwicklung. Michael, bitte nimm diese Anforderung und entwerfe uns zehn Designoptionen.“ Wenige Sekunden vergehen, dann erscheinen mitten im Raum realitätsnahe 3D-Versionen der nächsten Electra-Quantum-Generation. Michael meldet sich zu Wort: „Voilà. Ich habe neben den Anpassungen am Motor auch die aktuellen Designs des Markts berücksichtigt und mache Vorschläge für ein innovatives und überraschendes Design. Laut Marktforschung treffen sie genau den Zeitgeist für unser geplantes Release in 2052.“ Der Raum, in dem sich die Task Force trifft: Warmes Licht, Sofas, ein Kicker. Jemand hat Band-Poster an die Wand gehängt. Jemand anderes züchtet Kakteen am Fenster. Keine Computer, keine Monitore. Nur die fünf Ingenieur:innen. Michael heißt keiner von ihnen.

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Vision: eine Engineering-Task-Force im Jahr 2050 – der GenAI-Assistant namens Michael führt die Ideen für ein neues Fahrzeugmodell blitzschnell aus.
Bild: Midjourney / Fraunhofer IEM

Die Geschichte des KI-Engineering-Assistenten Michael ist eine Vision, die das Fraunhofer IEM entwickelt hat, um die Chancen von Generative AI in der Produktentwicklung zu diskutieren. Grundlage ist eine intensive Beschäftigung mit Generative-AI-Tools, und zwar nicht erst seit dem Durchbruch von ChatGPT im November 2022. Die Wissenschaftler:innen probieren wir viel aus. Sie prüfen Generative AI aber auch real in Entwicklungsprojekten mit der Industrie.

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KI im Engineering nutzen

Tatsächlich ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der industriellen Praxis seit vielen Jahren etabliert. Wir sprechen hier von diskriminativer Künstlicher Intelligenz, die auf Basis von Daten etwa Aussagen über einen Zustand ableiten kann. Die Einsatzfelder sind dabei meist sehr spezialisiert, beispielsweise eine automatische Erkennung von Fehlern an Bauteilen oder die Detektion von ungünstigen Prozessparametern eines Produktionsprozesses. Als das US-Unternehmen OpenAI der Öffentlichkeit den Chatbot ChatGPT zugänglich machte, ging ein Beben durch Wirtschaft und Gesellschaft. Mit einem Schlag offenbarte sich das Potenzial der neuen KI-Modelle, die zwei Eigenschaften mit wahrhaft revolutionärem Charakter aufweisen:

Erstens wird Generative AI so trainiert, dass sie gänzlich neue Inhalte (Text, Bild, Audio oder Video) erschafft. Beispiel ChatGPT: Das zugrundeliegende Sprachmodell (engl. Large Language Model LLM) berechnet – auf Basis einer initialen Eingabe – die Wahrscheinlichkeiten für den darauffolgenden Text. Vereinfacht ausgedrückt: Es setzt ein Wort hinter das andere, erzeugt so aber Texte auf hohem sprachlichem Niveau und erläutert komplexe Zusammenhänge. Aber Vorsicht: Es kennt keinen Unterschied zwischen wahr und falsch; und versucht lediglich, die menschliche Sprache authentisch vorherzusagen.

Zweitens brauchen wir lediglich unsere natürliche Sprache, um heute verfügbaren Generative-AI-Tools Arbeitsaufträge zu geben. Das Arbeiten mit KI-Modellen war bisher Programmierer:innen vorbehalten, die komplexen Code in Python oder C++ beherrschten. Jetzt tippen wir unsere Befehle in einen Chatbot oder sprechen sie ein. Generative AI ermöglicht es uns, Künstliche Intelligenz mit geringem Aufwand und ohne Fachwissen zu nutzen. Und die Technologie entwickelt sich in rasantem Tempo weiter: Wissenschaft und Industrie arbeiten daran, die Modelle weiter zu verbessern und mit verschiedenen Ansätzen zu kombinieren, um zum Beispiel die Nachvollziehbarkeit und vor allem die Verlässlichkeit der Modelle zu verbessern.

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Im Gegensatz zur diskriminativen KI schafft GenAI gänzlich neue Inhalte und ist in der Lage, mit uns über die natürliche Sprache zu kommunizieren.
Bild: Fraunhofer IEM

Von ChatGPT zur eigenen GenAI-Lösung

Können offen zugängliche Generative-AI-Tools wie ChatGPT, Midjourney und Co. bereits in der Entwicklung komplexer technischer Systeme helfen? Wir sagen: Ja, in bestimmten Teilbereichen der Produktentwicklung ist es durchaus möglich, auf diese Werkzeuge zurückzugreifen – etwa für Routinetätigkeiten wie Zusammenfassungen oder die Ideengenerierung.

Zwei Faktoren beschränken dies allerdings: Erstens ist die Datenbasis, auf die diese Tools zurückgreifen, für komplexe Engineering-Aufgaben bei weitem nicht ausreichend. Entwicklungsdaten sind hochsensibel und wertvoll. Diese werden von der Industrie selbstverständlich nicht ins Netz gestellt. Deshalb ist es zweitens auch wichtig, mit den eigenen Entwicklungsdaten ebenso umsichtig zu agieren. Denn wer den eigenen Anforderungskatalog von ChatGPT bearbeiten lässt, macht diese Daten unter Umständen der Öffentlichkeit zugänglich.

Wollen wir Generative AI von der Anforderungserhebung über die Systemspezifikation hin zur Integration nutzen, führt am Aufbau einer vertraulichen Lösung also kein Weg vorbei. Ein Weg, der sich lohnt: Mit eigenen Daten- und KI-Modellen erwarten uns enorme Effizienzsteigerungen.

Ein Beispiel ist die Dokumentation – eine Aufgabe, die Teil eines jeden Entwicklungsprozesses ist und viele Kapazitäten bindet. Hier kommen vor allem die texterstellenden Algorithmen zum Einsatz. Ähnlich wie ChatGPT können sie bestehenden Softwarecode kommentieren und dadurch die Nachvollziehbarkeit im Entwicklungsprozess deutlich erhöhen. Um Fehler der KI auszuschließen, blickt am Ende ein:e Mitarbeiter:in über das Konzept und hat den Arbeitsschritt so mit deutlich weniger Aufwand erledigt.

Ein zweites Beispiel ist die Anforderungsanalyse, die früh im Entwicklungsprozess definiert, was das spätere Produkt leisten soll. Recherche und Auswertung der dafür relevanten Informationen – wie Marktbeobachtung, Betriebsdaten vorheriger Produktgenerationen, Kundenwünsche oder Normen und Standards – sind händisch ein langwieriger Prozess, der von einer spezialisierten KI in nur einem Bruchteil der Zeit erledigt werden kann.

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Generative Künstliche Intelligenz (GenAI) bietet große Potenziale im Engineering. In der Fahrzeugbranche kommen die Algorithmen bereits zum Einsatz.
Bild: sdecoret/stock.adobe.com

Ein drittes Beispiel ist der Systementwurf – wenn das spätere Produkt sowohl als technisches System als auch als Bestandteil seines Umfeldes modelliert wird. Eine generative KI kann hier eine Vielzahl an Lösungsalternativen erzeugen und – je nach Priorität der Anforderungen – automatisiert Vorschläge für verschiedene spätere Designoptionen machen. So wie beim Engineering-Assistenten Michael, weiß das Entwicklungsteam in wenigen Augenblicken, welche Auswirkungen der aktuelle Systementwurf auf wichtige Aspekte wie das Design, aber auch die Nachhaltigkeit des späteren Produktes hat.

Für KI-basierte Engineering-Tools benötigen wir sehr spezielle und individuelle Daten. Oftmals handelt es sich zudem um kritische interne Unternehmensdaten, die nicht an Wettbewerber gelangen dürfen. Deshalb ist die Schaffung eines zentralen, gepflegten und vor allem sicheren Datenpools eine wichtige Voraussetzung für die domänenspezifische Nutzung von Generativer Künstlicher Intelligenz.

Drahtseilakt: Umgang mit den Daten

Die Herausforderung lautet dabei: Aktuell gibt es im Vergleich zu Texten (zum Beispiel bei Wikipedia) oder Videos (beispielsweise bei Youtube) keine öffentlich verfügbare Datengrundlage. Ein Beispiel sind STEP-Daten in der CAD-Konstruktion, die eigentlich ein gutes Anwendungsfeld von KI-Diensten sein könnten. In der Praxis sind qualitativ hochwertige CAD-Daten öffentlich nicht in ausreichender Quantität für das Training von Gen-AI-Modellen verfügbar. Eine „Text-to-CAD-KI“ ist deshalb noch in weiter Ferne.

Ein Beispiel aus der Praxis: Gemeinsam mit dem Automobilhersteller Nissan hat das Fraunhofer IEM ein intelligentes Assistenzsystem für die Systemspezifikation entwickelt – und stand vor der Herausforderung, die Daten aus vorherigen Entwicklungsprojekten, Fehlerberichten und Testergebnissen aufzubereiten. Um ein automatisiertes Auswerten zu ermöglichen, wurden die unstrukturierten, meist textuellen Daten in eine strukturierte Form gebracht. Durch das Verarbeiten der natürlichen Sprache (Natural Language Processing) und das Erstellen von Graphalgorithmen entstand ein Wissensgraph mit umfangreichem Engineering-Know-how aus vergangenen Entwicklungsprojekten. Eine KI analysiert diesen Wissensgraph und unterstützt die Entwickler:innen mit kontextabhängigen Empfehlungen für die Systemspezifikation. Konkret können sie für ein bestimmtes Bauteil mögliche Probleme erkennen, aber auch Lösungsalternativen generieren lassen. Die enorme Vielfalt an Datenformaten wie etwa Zeichnungen, Pläne oder Programme erschwert Entwickler:innen außerdem den ganzheitlichen Blick auf ihr Entwicklungsprojekt. Künftig gilt es also, die GenAI-Modelle weiterzuentwickeln, damit sie die vielfältigen im Engineering verwendeten Formate verstehen, analysieren und interpretieren können – und auch zuverlässig einschätzen können, wie gut die Qualität ihrer Quellen ist.

Vorteile durch gezielte Kooperationen

Eine Lösung, um in einem geschützten und kontrollierten Raum auch Zugriff auf die Daten anderer Partner der Wertschöpfungskette zu haben, sind gezielte Kooperationen: Initiativen wie Gaia-X, Catena-X und Manufacturing-X sind aktuelle Leuchtturmprojekte eines allgemeinen Trends zur Konsortienbildung. Mehrere Unternehmen stellen ihre Informationen in sicheren Datenräumen zur Verfügung. Hier wird geregelt, wer welchen Zugriff auf die einzelnen Informationen erhält. Das soll den Datenaustausch über Unternehmensgrenzen hinweg ermöglichen.

Zusammen mit dem Heinz Nixdorf Institut der Universität Paderborn haben Fraunhofer-Institute im Jahr 2017 begonnen, eine Plattform für die gesamte Wertschöpfungskette von Künstlicher Intelligenz in der Produktentwicklung aufzubauen. Der KI-Marktplatz bringt KI-Anbieter mit den Anwendern im Engineering zusammen. Unternehmen finden hier schnell und pragmatisch Umsetzungspartner für alle Bereiche des Produktlebenszyklus. Mit sechs Pilotprojekten, 20 Unternehmen und Forschungseinrichtungen sowie 72 assoziierten Partnern ist der KI-Marktplatz ein erfolgreiches Beispiel für eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit, die es bei der breiten Nutzung von Generative AI braucht.

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In fünf Schritten zum erfolgreichen Einsatz von GenAI

Richtig eingesetzt, kann Generative AI unser Engineering schneller, besser und kreativer machen. Auch wenn vieles noch Vision ist, plädieren wir dafür, sich jetzt schon mit den Tools zu beschäftigen – vielleicht erst auf spielerische Art, mit einem kleinen Team. So werden Grundlagen geschaffen, um in Zukunft im Wettbewerb ganz vorn zu sein. Mit diesen Grundlagen bereiten Unternehmen sich auf den erfolgreichen Einsatz von Generative AI im Engineering vor.

  • Strategisches Vorgehen: In jedem Unternehmen gibt es unterschiedliche Potenziale für den Einsatz von Generative-AI-Tools. Zu Beginn sollten sie ganzheitlich identifiziert werden.
  • Datengrundlage: Das Erfassen und Verfügbarmachen der benötigten Daten sind wichtige Grundlagen. Fleißarbeit lohnt sich.
  • Sicherheit & Integrität: Das Schaffen eines unternehmensinternen Datenraums ermöglicht die sichere Nutzung von Generative AI.
  • Dauerhaftes Budget: Für die Entwicklung der eigenen Generative-AI-Lösung sollte auch Budget für die langfristige Pflege und Dauerkosten, beispielsweise Serverleistung, eingeplant sein.
  • Mindset und Weiterbildung: Für die erfolgreiche Nutzung von GenAI-Tools gilt es, Mitarbeiter:innen zu begeistern, zu qualifizieren und kontinuierlich mitzunehmen. Vielleicht bietet es sich an, die Technologien in einer kleinen Task Force auszuprobieren.

Engineeringkompetenzen weiterhin wichtig und gefragt

Wir stehen erst am Anfang. Die große Welle der spezialisierten Generative-AI-Tools wird kommen, und sie wird die Art und Weise, wie Entwickler:innen arbeiten, immens verändern. Trotzdem gibt es Grundprinzipien unserer Ingenieursarbeit, auf die wir in Zukunft weiterhin großen Wert legen sollten – wie unsere Kreativität, unser kritisches Denken und das Wissen um unsere Verantwortung. Fähigkeiten wie diese kann und sollte uns eine KI niemals abnehmen. Exzellente Engineeringkompetenzen werden deshalb weiterhin wichtig und gefragt sein, um die Zuarbeit der KI bewerten und verantworten zu können.

Hannover Messe 2024: GenAI für die Produktentwicklung

Auf dem diesjährigen it’s-OWL-Gemeinschaftsstand (Halle 7, Stand D27) zeigt das Fraunhofer IEM auf der Hannover Messe 2024, wie Generative AI die Ingenieursarbeit jetzt schon revolutioniert. Die Forscher:innen demonstrieren den praktischen Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT und Stable Diffusion in der Entwicklung technischer Systeme – beispielhaft an der Entwicklung eines Modellautos. Besucher:innen erleben mit dem Showcase Schritt für Schritt den gesamten Designprozess mit Generative AI. Vom ersten Entwurf bis hin zu praxisnahen und unerwartet kreativen Designoptionen und Prototypen. Jede Variante wird sorgfältig geprüft und die aussichtsreichsten werden als als 3D-Hologramme zum Leben erweckt. (sc)

www.iem.fraunhofer.de

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