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In der Produktentwicklung entscheidet sich die Nachhaltigkeit

Engineering
In der Produktentwicklung entscheidet sich die Nachhaltigkeit

Welchen Einfluss hat die Produktentwicklung auf die Nachhaltigkeit? Dieser Fragestellung ist Thomas Kruschke als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung ‚Nachhaltige Produkt-Ökosysteme‘ des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in Berlin und als Chair der Arbeitsgruppe „SuSy“ (Sustainability enabled by Systems Engineering) der Gesellschaft für Systems Engineering e. V. (GfSE) bis Juli 2023 nachgegangen. Seine Antwort ist klar: Engineering und Konstruktion haben es in der Hand, für mehr Nachhaltigkeit zu sorgen. Dabei gilt: Je früher, desto besser – Informationen sind entscheidend.

Interview: Michael Corban, Chefredakteur KEM Konstruktion|Automation

Inhaltsverzeichnis

1. Life Cycle Assesment als Ausgangsbasis
2. DIN EN ISO 14044 liefert Leitfaden
3. Mit digitalen Zwillingen Umweltwirkungen minimieren
4. Veranstaltungstipp: Engineering 2036

KEM Konstruktion|Automation: Kann die Produktentwicklung dazu beitragen, nachhaltigere Produkte zu entwerfen? Und gelingt es dabei, den Blick über den CO2-Fußabdruck der eigenen Fertigung auf den Einsatz der Produkte zu legen?

Thomas Kruschke: Einer der wesentlichen Gestaltungshebel liegt darin, Produkte zu modularisieren und für eine bessere Demontage- und Recycling-Fähigkeit zu sorgen. Im Fokus muss immer ein möglichst ressourcenschonender Umgang entlang des gesamten Produktlebenszyklus stehen. Das bedeutet, dass in jeder Lebenszyklusphase die Potenziale zur Operationalisierung der 9R-Strategien (Refuse, Rethink, Reduce, Reuse, Repair, Refurbish, Remanufacture, Repurpose, Recycle) ausgeschöpft werden.

Thomas Kruschke, Chair der GfSE-Arbeitsgruppe „SuSy“
„Digitale Zwillinge unterstützen bei Entscheidungen über den Lebenszyklus hinweg – und stellen am Ende produktspezifische Informationen zu Wiederverwendung sowie Remanufacturing oder Recycling bereit“, sagt Thomas Kruschke, seinerzeit Chair der GfSE-Arbeitsgruppe „SuSy“.
Bild: Kruschke

Entscheidend ist aber auch, dass wir als Produktentwickler und Produktentwicklerinnen die Chance haben, die ökologische Dimension unserer Entscheidungen nachvollziehen zu können. Über eine Lebenszyklusanalyse (Life Cycle Assesment – LCA) kann ich mir diese Informationen beschaffen. Dabei gilt: Je früher, desto besser. Je früher ich diese Analyse durchführe, desto mehr kann ich Emissionen reduzieren und damit nachhaltigere Produkte entwickeln. Digitale Zwillinge können dann produktindividuell und nachvollziehbar Erkenntnisse liefern, wie nachhaltig das jeweilige Produkt ist – auch über den CO2-Footprint hinaus. Sie unterstützen bei Entscheidungen während der Auslegung des Produkts und der Gestaltung der Produktionsprozesse genauso wie im Bereich After Sales oder bei der Wartung der Systeme, indem mögliche Optimierungsmaßnahmen aufgezeigt werden. Und: Am Ende des Produktlebens stellen sie produktspezifische Informationen zu dessen Demontage und Verwertungspotentialen zur Verfügung – das erleichtert die Wiederverwendung sowie Remanufacturing oder Recycling.

Life Cycle Assesment als Ausgangsbasis

KEM Konstruktion|Automation: Können Sie kurz den Ablauf eines Life Cycle Assessments erläutern?

Kruschke: Zu Beginn werden zunächst die Systemgrenzen festgelegt, wobei im Sinne einer Kreislaufwirtschaft bevorzugt eine Betrachtung ‚von der Wiege bis zur Wiege‘ – Cradle to Cradle – gewählt werden sollte. Cradle to Gate würde nur die Herstellung des Produktes umfassen, nicht den Betrieb; Cradle to Grave würde die Entsorgung beinhalten. Im zweiten Schritt geht es dann darum, sämtliche Umweltwirkungen innerhalb dieser Grenzen zu erfassen – neben der Produktion dann eben auch über die Nutzungsphase hinweg bis zur Entsorgung, idealerweise dem Recycling.

Darstellung_der_Kreislaufwirtschaft_(Circular_Economy)
Die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) als Ziel: Ideal wäre, wenn es gelingt, alle Materialien wiederzuverwerten – also Abfall (Waste) zu vermeiden und die Hinzunahme neuer Ressourcen zu minimieren.
Bild: petovarga/stock.adobe.com

Das ist eine große Aufgabe – aber im Engineering werden 80 % aller Entscheidungen getroffen, die das Produkt und damit auch seine Nachhaltigkeit definieren. Deswegen ist es aus der ökonomischen Perspektive sinnvoll, sich frühzeitig auch mit den Umweltwirkungen zu beschäftigen – viele Entscheidungen lassen sich später nicht mehr rückgängig machen und spätere Änderungen verursachen hohe Kosten. Das gilt nicht nur für die Produktentwicklung im Allgemeinen, sondern insbesondere auch mit Blick auf die ansteigenden Nachhaltigkeitsanforderungen.

DIN EN ISO 14044 liefert Leitfaden

KEM Konstruktion|Automation: Lassen sich denn die Systemgrenzen immer sinnvoll legen und wie kommt man an all die Daten, um ein LCA durchzuführen?

Kruschke: Die Grenzen müssen passend gewählt sein! Ist zum Betrieb eines Produktes eine Server-Infrastruktur erforderlich, muss diese selbstredend mit betrachtet werden. Nur wenn ich alle Stoff- und Energieströme im Produktlebenszyklus erfasse, komme ich zu den gewünschten Aussagen etwa mit Blick auf den CO2-Footprint. Die DIN EN ISO 14044 (Umweltmanagement – Ökobilanz – Anforderungen und Anleitungen) liefert hier eine standardisierte und genormte Vorgehensweise zur Bewertung der Nachhaltigkeit von Produkten anhand verschiedener Wirkkategorien. Daten liefern zudem eine Reihe von Life-Cycle-Inventory-Datenbanken – auch wenn es hier noch die ein oder andere Informationslücke gibt. Bezüglich der Materialien ist die Datenlage gut, bei den Produktionsprozessen weniger und bezüglich der End-of-Life-Phase und der Betrachtung von multiplen Produktlebenszyklen gibt es noch Nachholbedarf. Des Weiteren stellen fehlende Informationen bei Buy-Entscheidungen eine große Herausforderung dar.

Speziell für die Automobilindustrie wird mit der Catena-X-Initiative unter anderem der Ansatz erforscht, vergleichbare Angaben mithilfe von Product Category Rules zu machen – das gilt aber produktspezifisch eben nur für den Automobilbau. Grundvoraussetzung dafür ist eine unternehmensübergreifende und kollaborative Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Mit digitalen Zwillingen Umweltwirkungen minimieren

KEM Konstruktion|Automation: Und mit diesen Daten kommen die eingangs erwähnten digitalen Zwillinge zum Einsatz?

Kruschke: Genau – aber nur, wenn das jeweilige Produkt sich für den Einsatz eines digitalen Zwillings eignet. Da der Aufwand, der mit der Einführung eines digitalen Zwillings zusammenhängt, gegenüber dem Nutzen – also dem Unterstützen zur Operationalisierung der 9R-Strategien –, nicht zwangsläufig zu einer Reduktion der Umweltauswirkungen führt. Generell gilt es, zwischen einem konventionellen und einem digitalen Weg abzuwägen. Der Nutzen des digitalen Zwillings ist vor allem, Informationen über den Produktlebenszyklus hinweg zur Verfügung zu stellen – und das erleichtert am Ende dann den Einstieg in die Kreislaufwirtschaft. Gerade in der Produktentwicklung könnten digitale Zwillinge aber auch helfen, die Transparenz über die Umweltauswirkungen zu erhöhen.

KEM Konstruktion|Automation: Wollen Sie das kurz erläutern?

Kruschke: Das Ziel ist ja, frühzeitig zu erkennen, welche Entscheidungen welche Auswirkungen haben – denn die Entscheidungen in der Produktentwicklung wirken ja über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. Wenn wir künftig also Cradle to Cradle denken, kommt der Qualität der zugrundeliegenden Datenbanken eine hohe Bedeutung zu. Begleiten digitale Zwillinge ein Produkt lebenslang, kann man Daten im Feld erfassen und mit ihnen die Qualität der Datenbanken für eine fundierte Lebenszyklusanalyse nach und nach steigern.

In der Produktentwicklung kann auch das Model-Based Systems Engineering (MBSE) eine wichtige Rolle spielen, weil ich neben den funktionalen Anforderungen für die unterschiedlichen Domänen auch nicht-funktionale validieren und verifizieren kann – etwa die Klimaneutralität eines Produktlebens oder andere planetare Grenzen betreffend. Das erfordert im ersten Anlauf eine Menge Zusatzarbeit – aber ich gewinne zum jeweiligen Produkt eine Informationsquelle, in der alle relevanten Informationen zusammenlaufen. Das Plus ist: Habe ich die Arbeit einmal erledigt, lässt sie sich auch bei Folgeprodukten nutzen. Damit steigt auch die Effizienz im Engineering.

www.ipk.fraunhofer.de


Veranstaltungstipp: Engineering 2036

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Die Konferenz Engineering 2036 will Ideen liefern, wie sich Produkte, Maschinen und Anlagen nachhaltiger designen, herstellen und betreiben lassen.
Bild: Ilya/stock.adobe.com/Konradin Mediengruppe

Aufzuzeigen, welche Rolle die Produktentwicklung mit Blick auf nachhaltigere Produkte spielen kann, ist Ziel der Engineering 2036. Die Konferenz findet am 27./28. November 2024 in der Arena2036 in Stuttgart statt. Veranstalter ist die KEM Konstruktion|Automation, unterstützt von der Schwesterzeitschrift Industrieanzeiger und dem Fraunhofer IPA. Mehr dazu online hier.

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