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Gute Dichtheit wird konstruiert

Der Einfluss der Konstruktion des Einbauumfelds auf die Funktion von Dichtungen
Gute Dichtheit wird konstruiert

Dichtungen sind tribologische Systeme. Nicht nur das Dichtelement ist wichtig, sondern genauso sind es die tribologischen Partner Gegenfläche, abzudichtendes Fluid und die Betriebsbedingungen. Die höchste mechanische, thermische und chemische Belastung findet an der kleinen, tatsächlichen Berührzone zwischen Dichtelement und Gegenfläche statt. Trotzdem hat besonders die weitere Einbauumgebung – die weiträumigere konstruktive Integration der Dichtung in das technische System – einen ganz entscheidenden Einfluss darauf, wie gut oder wie schlecht eine Dichtung ihre Aufgabe erfüllen kann.

Exklusiv in kem Der Autor: Prof. Dr.-Ing. Werner Haas, Institut für Maschinenelemente, Universität Stuttgart

Jedes Dichtelement kann nur so gut funktionieren wie seine Einbauumgebung es zulässt – darauf wird immer wieder eindringlich hingewiesen [1–4]. Beispielhaft ist im ersten Bild eine typische dynamische Wellenabdichtstelle (drehende Bewegung) dargestellt. Passt das tribologische System Dichtring, Wellenoberfläche, abzudichtendes Fluid und Umgebungsbedingungen – was häufig genug nur schwer zu erreichen ist – und ist auch die „Sumpftemperatur“ im Aggregat nicht zu hoch, kommt es immer noch maßgeblich auf die konstruktive Einbauumgebung an, wie lange, und ob überhaupt, das Dichtsystem zuverlässig arbeitet.
Das Dichtelement muss beispielsweise zuverlässig beschädigungsfrei montierbar bzw. ohne Beschädigung von Welle und Gehäuse demontierbar sein. Es muss sicher im Gehäuse sitzen und darf keinesfalls mit rotieren. Es sei denn, es ist dafür vorgesehen. Dann muss es aber fest auf der Welle sitzen. Es muss bei allen Betriebsbedingungen ausreichend geschmiert und eine ausreichende Wärmeabfuhr gewährleistet sein. Die Dichtzone muss vor innerem (Verschleißpartikel) und äußerem Schmutz geschützt sein und darf auf der Welle – z. B. durch die Montage anderer Bauteile oder durch den Transport nach der Fertigung – keinesfalls beschädigt werden.
Es muss dafür gesorgt werden, dass sich am Dichtelement kein Druck aufbauen kann (Förderwirkung des Lagers (C), Gehäuseentlüftung), außer das Dichtelement ist dafür ausgelegt und die Betriebsbedingungen passen dazu. Entscheidend ist hier nur der Druck direkt am Dichtelement. Der Druck an anderer Stelle im technischen System spielt für die Dichtung keine Rolle.
Bei höherem Leistungseintrag muss das Öl zwischen Lager und Dichtring mit dem Ölsumpf zirkulieren können (B). Bei höherer Umfangsgeschwindigkeit muss neben der Reibleistung in der Dichtzone die Verwirbelungsleistung von im Öl planschenden Bauteilen in der Nähe (A) des Dichtelements beachtet werden. Sie führt zu zusätzlichem Wärmeeintrag und ist durch konstruktive Maßnahmen möglichst gering zu halten. Günstig sind hier wenig Öl (niedriger Ölstand) sowie glatte und möglichst weitgehend stationäre Wände.
Je geringer eine statische und/oder eine dynamische Exzentrizität der Welle im Dichtzonenbereich ist, umso besser funktioniert die Dichtung. Hier spielen u. a. Art der Lagerung, Lagerspiel (C), Wellenverlagerung infolge Querkräfte, Lagerverschleiß, Abstand zwischen Lager und Dichtung (A), enge oder weite Toleranzen, viele oder wenige Teilfugen (Toleranzketten) und letztlich die mögliche Präzision der Fertigung eine wesentliche Rolle. Wird dann montiert, muss natürlich der Werker genügend dichtungsspezifische Montagekompetenz haben. Dichtungen sind empfindliche Bauteile und bei der Montage leicht irreparabel zu beschädigen.
Entscheidend: der Konstrukteur
Praktisch alle hier angeführten wichtigen Punkte werden bei der Konstruktion des technischen Produkts festgelegt. Deshalb ist es unerlässlich, die Belange der Dichtungen von Anfang an mit zu berücksichtigen. Und sei es auch nur, dass schlussendlich noch genügend Bauraum für das geeignetste Dichtsystem zur Verfügung steht. Dies ist häufig genug nicht der Fall.
Auch bei den vermeintlich einfachen statischen Dichtstellen ist der Konstrukteur von Anfang an dichtungstechnisch stark gefordert.
Einbauumgebung statischer Dichtstellen
Nahezu selbsterklärend sind im zweiten Bild am Beispiel der Teilfuge eines Getriebegehäuses wesentliche konstruktive Belange in der Einbauumgebung einer statischen Abdichtstelle dargestellt. Für Rohrleitungs- oder Armaturenflansche gilt Ähnliches. Praktisch alle genannten Punkte zielen darauf ab, auf die Dichtung die notwendige Pressung aufzubringen und Bewegungen in der Dichtfuge zu unterbinden. Die absolute dichtungstechnische Notwendigkeit einer ausreichenden und gleichmäßigen Pressung auf jedem 100stel Millimeter der gesamten Dichtungslänge sollte man sich immer wieder vor Augen halten.
Diese Pressung ist nicht nur aufzubringen, sondern im Dauerbetrieb auch zu halten. Und das trotz Setzen der Dichtung, thermischen Dehnungen, äußeren Kräften und Vibrationen. Die Schrauben beispielsweise dürfen sich also nicht lockern. Lange, dünne Schrauben und große Klemmlängen helfen hier. Natürlich dürfen sich auch die Flanschoberflächen nicht verformen. Hier haben u. a. Schraubenlage, Schraubenzahl, Krafteinleitung, Flanschdicke, Verrippung u. a. m. einen erheblichen Einfluss. Je filigraner die Bauteile werden (Stichwort: Leichtbau), umso gravierender werden die zu berücksichtigenden Einflüsse.
Auch Korrosion in der Dichtfuge kann im Laufe der Zeit zum Versagen der Dichtstelle führen. Hier sind dann Dichtungsmaterial, Flanschmaterial und -geometrie, Fluid und Umgebungsbedingungen – z. B. Salzwasser – ganz gezielt aufeinander abzustimmen und geeignete Materialien auszuwählen.
Einbauumgebung bei Linearbewegung
Bei Linearbewegung macht die weiträumigere Einbauumgebung am wenigsten Probleme, wenn für die gegebenenfalls hohen Drücke (Hydraulik) die Wandstärken entsprechend großzügig dimensioniert sind. Dafür müssen aber die einzelnen Elemente der Dichtsysteme genau aufeinander abgestimmt werden. Sie beeinflussen sich gegenseitig stark.
Eine moderne Kolbenabdichtung für beidseitige Fluidbeaufschlagung besteht aus einem symmetrischen Dichtring mit flachem Pressungsverlauf und möglichst weit auseinander liegenden Führungselementen (Langführung). Damit ist sie gut geschmiert und somit reibungs- und verschleißarm. Spezielle Führungselemente sind wichtig, da Dichtringe keine Führungsfunktion übernehmen können. Dafür sind sie schlicht nicht geeignet!
Falsch konstruierte Führungen können in Hydraulik-Dichtsystemen große Schäden verursachen. Durch den engen Führungsspalt wird bei Bewegung Hydrauliköl geschleppt, das durch den nachfolgenden Dichtring am Weitertransport gehindert wird. Besteht nun keine separate Rückflussmöglichkeit – z. B. ein genügend breiter Stoßspalt des Führungsbandes –, baut sich vor dem Dichtring ein hoher Schleppdruck auf oder es entsteht Unterdruck, der zu Dampf- oder Gasblasen führt. Beides ist extrem schädlich und muss unbedingt vermieden werden. Anhand des im vierten Bild dargestellten Beispiels würde der Dichtring D anstatt den Systemdruck p0 von 100 bar einen Druck p von ca. 900 bar sehen. Das würde den Dichtring nach kurzer Zeit zerstören. Die Berechnung des Schleppdrucks pS basiert auf der Reynoldsgleichung [1, 3, 4].
Bei der Stangenabdichtung kommt es darauf an, nur einen dünnen Schmierfilm beim Ausfahren in die Umgebung gelangen zu lassen und diesen beim Einfahren wieder vollständig zurück zu schleppen, ohne dabei Schmutz und Wasser von außen ebenfalls in das System zu schleppen. Dazu ist die Stange auch gut zu führen. Ein Abstreifer hält Schmutz und Wasser zurück, muss aber den Ölfilm vollständig durchlassen. Dies ist die schwierigste Aufgabe im Dichtsystem. Ein oder mehrere Dichtringe mit asymmetrischer Pressung erzeugen den dünnen Schmierfilm (um 0,1 µm) und lassen ihn beim Einfahren wieder vollständig passieren. Der druckseitig erste Dichtring muss eine hohe Druckdifferenz aushalten können, bis sich gegebenenfalls ein Zwischendichtungsdruck pZ einstellt. Er sollte wegen der hohen Anpressung auch reibungsarm sein. Gut geeignet sind hier günstig gestaltete Stufendichtringe aus geeigneten PTFE-Compounds. Der zweite oder letzte Dichtring sollte sehr gut abdichten und wegen des gegebenenfalls nur sehr dünnen Schmierfilms einen hohen Verschleißwiderstand aufweisen. Hier bewähren sich Dichtringe aus Polyurethan sehr gut.
Dichtsysteme von Anfang an in die Konstruktion einbeziehen
Viel spezifisches Wissen gehört dazu, um gut funktionierende Dichtstellen zu gestalten. Funktionsweise, Eigenschaften und Anforderungen der vielfältigen Dichtelemente müssen bekannt sein, um die geeignetsten auswählen zu können und keine unerfüllbaren Hoffnungen zu hegen. Dem zweiten Partner im Dichtsystem, den Gegenflächen (Flansch, Stange, Welle …), ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Da Dichtsysteme wie dargestellt sehr stark von ihrer Einbauumgebung beeinflusst sind, müssen sie unbedingt von Anfang an in die Entwicklung und Konstruktion mit einbezogen werden. Anderenfalls sind Probleme vorprogrammiert. Reicht das in [1–4] dokumentierte dichtungstechnische Wissen mal nicht aus, hilft der Bereich Dichtungstechnik am Institut für Maschinenelemente der Universität Stuttgart kompetent weiter.
Institut für Maschinenelemente, Tel.: 0711 685-66170, E-Mail: werner.haas@ ima.uni-stuttgart.de
Weiterführende Informationen:
[1] Prof. Werner Haas: Vorlesungsmanuskript „Dichtungstechnik“, 162 Seiten, erhältlich am Institut für Maschinenelemente der Universität Stuttgart
[2] Institutshomepage: www.ima.uni-stuttgart.de
[3] Müller, H. K.; Nau, B. S.: Fluid Sealing Technology – principels and applications. Marcel Dekker Inc., N.Y. 1998, ISBN 0-8247-9969-0
[4] Müller, H. K.; Nau, B. S.: www.fachwissen-dichtungstechnik.de (deutsche Online-Publikation von 3)
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