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Inhaltsverzeichnis
1. Neuromorphes Computing kurz erklärt
2. Wozu KI-Technologie hilfreich sein kann
3. KI-Technologien leichter einsetzen
4. Wie sich Steuerungsarchitekturen durch KI verändern
5. Safety und KI – wenn eine KI die andere überwacht
Neuromorphes Computing kurz erklärt
KEM Konstruktion|Automation: Im Zusammenhang mit der Gründung der Geschäftseinheit Synapticon Intelligence haben Sie den Begriff neuromorphes Computing in den Ring geworfen. Wollen Sie uns kurz erläutern, was Sie darunter verstehen?
Nikolai Ensslen (Synapticon): Das neuromorphe Computing nimmt sich die Funktionsweise des Gehirns zum Vorbild, um innovative Computerarchitekturen aufzubauen. Diese können wesentlich effizienter arbeiten als konventionelle Rechnerarchitekturen mit herkömmlichen CPUs.
Beim neuromorphen Computing kommen Prozessoren zum Einsatz, deren Hardware mit Blick auf das jeweilige mathematische Problem optimiert ist. Sie bilden damit neuronale Netzwerke direkt in ihrer Hardware ab. Ein Beispiel für solche Prozessoren sind die KI-Chips von Nvidia, mit denen sich etwa die Berechnungen für Large Language Models viel effizienter durchführen lassen – auch wenn es sich bei dieser Anwendung noch nicht um echtes neuromorphes Computing handelt. Ein Beispiel für einen Rechner, der einen Schritt in Richtung neuromorphes Computing macht, ist Teslas Computer Dojo, der das autonome Fahren verbessern soll.
Wandel der Softwarearchitektur eröffnet erst das Potential der KI
KEM Konstruktion|Automation: Begeben wir uns also mit dem neuromorphen Computing auf den Weg zu einer echten künstlichen Intelligenz?
Ensslen: Die Frage ist – was ist echte Intelligenz? Large Language Models wie ChatGPT profitieren natürlich von den stark gestiegenen Rechenleistungen und erzeugen erstaunliche Effekte – so dass man den Eindruck von Intelligenz hat, obwohl wir letztlich nur eine ‚wahrscheinliche‘ Antwort auf unsere gestellte Frage erhalten. Was allerdings fehlt ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen, die uns Menschen auszeichnet. Wir können Aufgaben auch auf Basis minimaler Informationen erledigen – weil wir innerhalb kürzester Zeit antizipieren können, ohne zuvor mit einer enormen Menge an Daten trainieren zu müssen. In diesem Sinne lautet die Antwort als eher Nein.
Wozu KI-Technologie hilfreich sein kann
KEM Konstruktion|Automation: Wozu ist das neuromorphe Computing dann gut?
Ensslen: Insbesondere im Bereich der Robotik-Softwarearchitektur findet ein Wandel weg von traditionellen, auf diskreten Softwarekomponenten basierenden Ansätzen hin zu integrierten, auf neuronalen Netzwerken basierenden KI-Modellen statt. Hier wird das neuromorphe Computing eine wichtige Rolle spielen, weil KI damit die Roboterprogrammierung vereinfachen kann.
Anders ausgedrückt: Der Roboter soll ‚lernen‘ können! Künftig soll er durch Zuschauen lernen und das direkt in seinem Steuerungsprogramm umsetzen können. Hintergrund ist, dass die KI-Technologie bei der Abstraktion von Komplexität helfen kann. Genauso wie Sprachmodelle dafür sorgen, dass man auf eine riesige Datenmenge sehr intuitiv zugreifen kann, reduzieren Action-Modelle in der Robotik die Komplexität der Kinematik und des Sensor-Aktor-Systems.
Betrachten wir beispielsweise einen humanoiden Roboter, dann verfügt dieser über bis zu 70 Freiheitsgrade sowie Kameras und Sensoren. Will ich Bewegungen hier traditionell diskret programmieren, wird die Aufgabe extrem schwierig und komplex. Mit Hilfe von KI lässt sich das Problem aber enorm vereinfachen – weil sie als Bindeglied zwischen der Kamera, mit der die Bewegungen beim Vormachen ‚beobachtet‘ werden, und der komplexen Kinematik des Roboters fungiert. Die Komplexität der Kinematik wird in gewisser Weise abstrahiert und das KI-Modell ‚findet selbst heraus‘, wie das Videotraining in Bewegungen zu übersetzen ist. Keine einfache Aufgabe – aber genau dafür haben wir die Geschäftseinheit Synapticon Intelligence gegründet.
KI-Technologien leichter einsetzen
KEM Konstruktion|Automation: Was bietet Synapticon Intelligence genau an?
Ensslen: Beratungs- und Supportdienstleistungen rund um die KI-Integration. Denn die Beherrschung neuer KI-Technologien wird für Maschinenbauer und Roboterhersteller zu einer zukunftskritischen Kompetenz. Dies erfordert einerseits ein tiefes technologisches Können, andererseits aber auch ein kreatives Verständnis dafür, wie sich diese Innovationen nutzen lassen. Dazu adressieren wir konkret drei Bereiche:
- Erstens das klassische Customer Engineering, bei dem wir einerseits Hilfestellung bei der Anwendung unserer Elektronikprodukte und Software geben sowie andererseits die jeweilige Applikation konkret unterstützen.
- Zweitens entwickeln wir kundenindividuelle Antriebssysteme inklusive der kompletten Steuerungstechnik – plus Beratung zu Systemarchitekturen und Safety. Die Basis legt hier vor allem die hochintegrierte Technik unserer Servoantriebe Somanet Integro.
- Und schließlich drittens das Thema KI-Transformation – also die Frage, wie ich mit der Technologie und den neuen Möglichkeiten umgehe und sie einsetze.
In diesem Sinne verstehen wir das ‚Intelligence‘ doppeldeutig sowohl als Wissen im Sinne unseres Know-hows als auch als KI.
Wie groß der Nutzen der Abstraktion der Komplexität mit Hilfe von KI ist, zeigt besonders deutlich das Beispiel des humanoiden Roboters. Wichtig ist mir aber zu betonen, dass es im Grunde keine Rolle spielt, ob es sich um einen humanoiden Roboter oder um eine einfachere Kinematik wie einen 6-Achs-Roboter oder einen Cobot handelt. Von der einfachen Usability profitiert jeder Roboter. Ich muss künftig also auch einen Industrieroboter nicht mehr diskret teachen – das kann mittels KI viel einfacher werden. Dann sagt man einfach ‚Räume die Wälzlager in die Kiste‘ und der Roboter ‚versteht‘, was ich damit meine und führt die Aufgabe aus. Roboterprogrammierung und -bedienung werden durch die Kombination von Large Language Models und Action Models also stark vereinfacht. Pioniere wie Neura Robotics haben das erkannt und Kameras oder Sprachinterface direkt in ihre kognitiven Roboter eingebaut.
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Wie sich Steuerungsarchitekturen durch KI verändern
KEM Konstruktion|Automation: Könnten Rechner für das neuromorphe Computing auch die klassischen Rechner ablösen, die heute etwa in Steuerungsarchitekturen im Maschinenbau zum Einsatz kommen?
Ensslen: Nein – denn die Chips für das neuromorphe Comuting werden vor allem für das Training neuronaler Netze benötigt. Für die Ausführung einer Steuerung wird diese hohe Rechenleistung gar nicht benötigt. Hinzu kommt: Bildet ein Prozessor ein neuronales Netzwerk direkt in seiner Hardware ab, kann man darauf beispielsweise kein Betriebssystem laufen lassen. Dementsprechend werden KI-Prozessoren ergänzend zu einer herkömmlichen CPU eingesetzt. Übrigens: Das war auch unsere ursprüngliche Idee bei Synapticon – unser erstes Produkt, ein Embedded Computer, verband eine klassische CPU mit einem FPGA (Field Programmable Gate Array), auf dem wir applikationsspezifische Beschleunigungsalgorithmen abgebildet hatten.
KEM Konstruktion|Automation: Wird künftig jede Steuerung – sei sie für eine Maschine oder/und einen Roboter gedacht – also zusätzlich einen KI-Chip erhalten?
Ensslen: Dazu muss sich erst noch herausstellen, wie groß die Vorteile tatsächlich sind. Zumal der Erfolg von Nvidia ja vor allem auf dem Software-Ökosystem basiert, das sich um die Chips herum aufgebaut hat. Gerade dieses Ökosystem erlaubt es, Software für die zugrundeliegende KI-Hardware zu erstellen. Ein Beispiel ist das Gr00t Foundation Model von Nvidia, das beispielsweise Sprach- und Action-Modelle verbindet. Technologisch wäre es allerdings auf jeden Fall wünschenswert, wenn nicht überall nur Prozessoren zum Einsatz kämen, die für die Parallelisierung weniger geeignet sind.
Safety und KI – wenn eine KI die andere überwacht
KEM Konstruktion|Automation: Wenn demnächst also die KI die Roboterbewegungen programmiert und steuert – wie geht man dann mit Fragen der Sicherheit um?
Ensslen: Natürlich macht KI ein System unsicherer, weil es weniger deterministisch wird. Wir nutzen deshalb einen spannenden Ansatz und lassen eine Safety-KI die Aktionen der Roboter-KI überwachen. Das Safety-KI-Modell beobachtet die Situation und beurteilt, ob diese sicher oder unsicher für den Menschen ist. Dabei sind die im Internet trainierten Modelle sehr hilfreich, weil es dort so viele Bildtrainingsdaten gibt. Auf diese Weise erhalten wir eine sehr solide Grundlage für unsere Safety-KI, die unsere Roboter-KI überwacht – auch wenn sich das vielleicht paradox anhört, wenn eine KI die andere KI überwacht.
Allerdings gilt es dabei zu bedenken, dass eine klassische Safety-Infrastruktur insbesondere einen humanoiden Roboter auch komplett nutzlos machen kann. Soll dieser beispielsweise in der Altenpflege zum Einsatz kommen, muss er ja den Menschen berühren – eine Safe-Motion-Funktion würde an dieser Stelle einen Industrieroboter allerdings komplett stoppen. Und selbst in einer Fabrikumgebung wirkt es ein bisschen albern, wenn der humanoide Roboter bei Annäherung eines Menschen in die Hocke gehen muss – nur weil er ja auch umfallen könnte.
KEM Konstruktion|Automation: Nachvollziehbar – aber wie zertifiziert man dann Sicherheit künftig?
Ensslen: Der klassische Weg mit Safety Integrity und Performance Leveln kann eigentlich nicht mehr funktionieren – denn daraus ergäbe sich ja eine sehr aufwändige Untersuchung mit hoher Komplexität, um alle möglichen Fälle abzudecken. Zu bedenken ist zudem, dass eine wasserdichte Safety, die potentielle Risiken systematisch ausschließt – so wie wir das im Maschinenbau und in der Industrie gewohnt sind – schon beim Auto oder Flugzeug nicht mehr zu erreichen ist. Warum – weil man ein Auto auf der Autobahn oder ein Flugzeug am Himmel nicht einfach anhalten kann! Man muss also in einer unsicheren Situation dennoch aktiv etwas tun, sei es an den Rand fahren oder landen. In der Industrie gibt es allerdings bislang kein aktives Eingreifen, sondern immer nur ein sicheres Anhalten und einen gestoppten Zustand. Insofern muss die Industrial Safety sehr viel dazulernen.
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