Inhaltsverzeichnis
1. Wo stehen Manufacturing Execution Systems heute?
2. Herausforderung Industrial Internet of Things (IIoT)
3. Modulare Produktionsplattformen als Antwort
4. Strategien für das Sammeln und Nutzen von Daten
5. Funktionen eines digitalen Produktionssystems
6. Die Entwicklung auf der MES-Seite
7. Zur Bedeutung der Low-Code-Programmierung
Wo stehen Manufacturing Execution Systems heute?
KEM Konstruktion: Digitalisierung verspricht das Nutzen einer bislang weitgehend ungenutzten Datenmenge im Unternehmen mit dem Ziel, die Produktion zu optimieren – nicht zuletzt auch die Ressourceneffizienz zu erhöhen. Sind dafür nicht eigentlich Manufacturing Execution Systems (MES) schon ausreichend?
Dieter Meuser (GEC): Klassische MES, welche aus den Systemen des Zeitalters von Computer Integrated Manufacturing (CIM) beziehungsweise Industrie 3.0 hervorgegangen sind – also Betriebs- und Maschinendatenerfassung (BDE/MDE), Personalzeiterfassung (PZE) und computerunterstützte Qualitätssicherung (CAQ) –, gehören zu den Schlüsselsystemen, die den Megatrend Industrie 4.0 seit Veröffentlichung der initialen Acatech-Studie im Jahr 2012 bei den fertigenden Unternehmen vorangetrieben haben. Ohne solche Systeme und ihre zentrale Rolle in der ‚Automatisierungspyramide‘ wäre die Digitalisierung – und damit die wertschöpfende Nutzung der grundlegenden Stamm- und Bewegungsdaten in den Fabriken – nicht dort, wo sie heute steht. Als Firmengründer und ehemaliger CTO eines MES-Anbieters der ersten Stunde erinnere ich mich noch aus eigener Erfahrung an die Industrie-4.0-Wegbereiter-Funktion der MES-Lösungen.
MES leisten bis heute gute Dienste, um die Anforderungen an eine durchgängige Betriebs- und Maschinendatenerfassung und deren Analyse zu erfüllen. Sie bieten Qualitätsmanagement und tagesgenaue Fertigungsplanung nach den bekannten Datenmodellen des CIM-Zeitalters. Mit der stringenten Einführung von MES lässt sich die Gesamtanlageneffektivität oder OEE (Overall Equipment Effectiveness) schon erheblich steigern. Daher sind sie neben den Mastersystemen für das Enterprise Resource Management (ERP) und Product Lifecycle Management (PLM) sowie der Leittechnik (Scada – Supervisory Control and Data Acquisition/Prozessleitsystemen – PLS) auch fester Bestandteil der Automatisierungspyramide geworden. Ihre Funktion wird selbstverständlich weiter benötigt.
Herausforderung Industrial Internet of Things (IIoT)
KEM Konstruktion: Aber ist sie auch ausreichend?
Meuser: Durch die steil wachsenden Möglichkeiten des Industrial Internet of Things (IIoT) wachsen eben die übergreifenden System-Aufgaben ebenso schnell. Es können neben den Stamm- und Bewegungsdaten einer Fabrik immer mehr Prozessdaten der Produktionsanlagen erfasst und auf leistungsfähigen cloudnativen IIoT-Plattformen wie unserem Oncite Digital Production System (Oncite DPS) verarbeitet werden. Somit sind Anwendungsszenarien möglich, welche in der Near-Realtime-Fertigungsteuerung der Fabrik münden, also der Steuerung nahezu in Echtzeit.
Die Einführung von modernen digitalen Produktionssystemen beziehungsweise Plattformen ist deswegen aus unserer Sicht der nächste wichtige Schritt, um das Versprechen einer 30prozentigen Produktivitätssteigerung – in Aussicht gestellt von der Acatech 2012 und oft zitiert – nun wirklich zu erreichen. Dies kann aber nur in Koexistenz mit den bestehenden IT-Landschaften einer Fabrik gelingen, in denen MES-Funktionalitäten weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Hier stimme ich auch der Einschätzung von Angelo Bindi zu (Anm. d. Red.: siehe Interview ab S. 20 in dieser Ausgabe), dem ersten Vorstand des MES D.A.CH Verband e.V.: Welches Namensschild dabei am System steht, ist für die Anwender zweitrangig, sofern es diese Anforderungen technisch und wirtschaftlich erfüllt.
Bestehende ERP-, MES-, Scada- und PLS-Lösungen mit monolithischer Software-Architektur sind aber – auch aus Kostengründen – nicht für Near-Realtime-IIoT-Anwendungsszenarien ausgelegt. Allerdings sind gerade diese Systeme noch sehr häufig im Einsatz. Sie einfach komplett abzulösen – ganz gleich durch welches neue System – steht nur äußerst selten zur Debatte. Die Kernfragen der Unternehmen lauten deswegen eher: Wie gelingt Fortschritt, ohne dass schon getätigte Investitionen in die IT-Architektur verloren sind? Und welche Digitalisierungsschritte sind realistisch, wirtschaftlich und zukunftsfähig?
Werden MES-Systeme durch agilere IIoT-basierte Lösungen ersetzt?
Modulare Produktionsplattformen als Antwort
KEM Konstruktion: An welcher Stelle muss also der Hebel angesetzt werden – wie lassen sich MES-Lösungen fit für die Zukunft im Sinne eines MOM (Manufacturing Operations Management), eines digitalen Produktionssystems machen?
Meuser: Die Richtung ist klar: Die Unternehmen brauchen Flexibilität und reduzierte Komplexität, um schnell die genau für sie passenden MES-/MOM-/IIoT-Use-Cases in die Realität umsetzen zu können. Dafür benötigen sie modulare Produktionsplattformen – also Systeme, die mit dem Einsatz von cloudnativen Microservices eine hohe Interoperabilität ermöglichen. Die hierfür erforderlichen IT-Technologien, wie beispielsweise Kubernetes (ein Open-Source-System zur Automatisierung der Bereitstellung, Skalierung und Verwaltung von containerisierten Anwendungen), sollten aus dem Open-Source-Platform-as-a-Service-Fundus des Silicon Valley konsumiert werden. Dieser plattformunabhängige Ansatz bietet die weitaus beste Perspektive – monolithische proprietäre Software hat heute ausgedient.
German Edge Cloud hat bei der Entwicklung des Oncite Digital Production Systems von Anfang an auf die genannten Technologien gesetzt. Die Businesslogik eines MES haben wir in einem Smart-MOM-Service umgesetzt und mit einem Virtual-Factory-Service. Jetzt wird das System auch noch mit der Low-Code-Plattform Scheer PAS kombiniert. Dazu haben wir gerade eine strategische Partnerschaft mit Scheer PAS beschlossen.
Wir sind überzeugt: Immer mehr Funktionen der ehemaligen ‚Automatisierungspyramide‘ werden zukünftig von digitalen Produktionsplattformen wie dem Oncite DPS übernommen. Daher liegt es für uns auf der Hand, dass sich auch die mannigfaltigen MES-Anbieter mit Hochdruck in diese Richtung entwickeln. Die Frage ist nur, wie schnell und wie umfassend sie dies auch von ihrer Ertragskraft her tun.
Strategien für das Sammeln und Nutzen von Daten
KEM Konstruktion: Mit Beginn der Corona-Pandemie sprach die Gartner Group von der Notwendigkeit eines ‚Composable Business‘, also einem Unternehmen, das ‚aus austauschbaren Bausteinen besteht‘; Scheer PAS spricht ja von ‚Composable Applications‘. Und auch die Docker-Technologie will Informationen aus verschiedensten Quellen zusammenführen. Letztlich arbeitet GEC also mit dem Oncite DPS an genau so einer Lösung?
Meuser: Composable Applications auf Basis von Containern sind die Zukunft für die gesamte Industrie. Und Prof. August-Wilhelm Scheer ist einer der Vordenker. Der grundsätzliche Bedarf an Wandlungsfähigkeit wurde bereits angesprochen. Das gilt auch für den flexiblen Betrieb der Systeme in Edge- und Multi-Cloud-Umgebungen. Hinzu kommt, dass die Veränderungsgeschwindigkeit steigt und sich die Unternehmen selten so vielen komplexen Herausforderungen gleichzeitig stellen mussten – von Energiekrise über Lieferkettenstress bis Fachkräftemangel.
Composable Applications, am besten gepaart mit Low-Code, reduzieren wenigstens seitens der IT die Komplexität. Das war für uns der Grund, die strategische Partnerschaft mit Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer zu schließen, um diese Vorzüge noch stärker auf den Shopfloor zu bringen. Scheer PAS wird als Low-Code & Integration Platform Teil des Oncite DPS.
Funktionen eines digitalen Produktionssystems
Zudem haben wir ja von Anfang an auf Kubernetes als plattformunabhängiges Cloud-Betriebssystem gesetzt und unsere cloudnativen industriellen Anwendungen zum vollwertigen Gesamtsystem Oncite DPS erweitert. Das System verbindet ehemals getrennte Kernkomponenten einer digitalen Produktion in einem integrierten System:
- Intelligentes Fertigungsmanagement mit MES- und MOM-Funktionen,
- Industrial IoT als Datenbasis,
- Low-Code-Development für einfache Anwendungsentwicklung,
- Edge Computing für die lokale Near-Realtime-Datenverarbeitung
Das Ergebnis ist Plattform- und Applikationsfunktionalität in einer integrierten Lösung mit moderner, flexibler Architektur. Das Analystenhaus Pierre Audoin Consultants hat die Plattform 2022 als ‚Best in Class‘ in Europa eingestuft. Die Integrations- und Low-Code-Funktionen von Scheer PAS sind die ideale Ergänzung.
Die Entwicklung auf der MES-Seite
KEM Konstruktion: Wir ordnen Sie denn die Mehrzahl der etablierten MES-Lösungen im Vergleich zu Ihrer Lösung ein?
Meuser: Dass auch die etablierten MES-Hersteller eine Migration ihrer Systemlandschaften auf cloudnative, Microservice-orientierte Systemarchitekturen anstreben, ist für uns klar. Ebenso liegt auf der Hand, dass die MES-Anbieter ihre Systeme in diese Richtung entwickeln, um IIoT-Anwendungen zu ermöglichen – wie auch schlüssig von Angelo Bindi für den MES D.A.CH Verband dargestellt (s. S. 20ff). Die Frage ist immer, wie stark dabei auch der monolithische Kern der MES-Applikation erneuert wird oder ob es sich um reine Add-ons zu den Altsystemen handelt. Manche sind dabei schon weiter, andere holen erst noch auf. Die relevanteste Frage aus unserer Sicht ist: Wie werden die bereits eingesetzten monolithischen Systeme bei den Fertigungsunternehmen im laufenden Betrieb fitter für IIoT-Anwendungen? Add-ons oder parallel betriebene Applikationen helfen kurzfristig, aber die Anwender brauchen auch eine technologisch und wirtschaftlich sinnvolle langfristige Entwicklungsperspektive. Ein Gedankenaustausch von GEC und MES D.A.CH Verband dazu wäre sicher spannend.
KEM Konstruktion: Welche Migrationspfade sehen Sie für Anwender ‚alter‘ MES-Lösungen?
Meuser: Aus unserer Sicht geht es einerseits darum, im Brownfield sehr schnell die Microservices zunächst ergänzend zur Verfügung zu stellen, ohne zum Beispiel Kern-MES-Funktionen aus der bestehenden Umgebung zu verlieren. Andererseits sollte die komplette sequenzielle Migration auf modernere Systeme – also die Auflösung der Automatisierungspyramide als Systemstruktur – schon mitgedacht und die technologische Basis dafür gelegt werden. Das hat uns bei der Entwicklung des Oncite DPS geleitet.
Zur Bedeutung der Low-Code-Programmierung
KEM Konstruktion: Sie hatten die Low-Code-Applikationsentwicklung bereits angesprochen – welche Rolle spielt dieses Thema in diesem Zusammenhang?
Meuser: Eine sehr große Rolle. Denken Sie an die Themen Tempo und Fachkräftemangel. Anlagenspezifische Anwendungen und Anpassungen werden mit Low-Code ohne umfassende IT-Kenntnisse möglich, indem sie auf einer grafischen Oberfläche modelliert werden, sogar einfach per Drag-and-Drop. Die Umsetzung in Programm-Code erfolgt automatisch.
Das Ergebnis: Das vorhandene Domänenwissen rund um die spezifische Rolle der Anwendung im Fertigungsprozess mündet ohne den Umweg über aufwendige Programmierung direkt in Digitalisierung. So geht es für die Fertigungs-Unternehmen noch einfacher voran. Dazu braucht es eine agile Plattform, die Microservices ermöglicht. Die Idee des Composable Enterprise von Scheer PAS passt also ideal zum Oncite DPS.
Dabei geht es übrigens weniger um komplexe neue Applikationen. Gerade die zahlreichen spezifischen Logiken und Funktionen im Prozess können aber sicher in Low-Code in Kombination mit den leistungsfähigen Programmierschnittstellen (APIs – Application Programming Interfaces) des Smart-MOM- und Virtual-Factory-Service des Oncite DPS umgesetzt werden, ohne die Business-Logik im Kernsystem des Oncite DPS anpassen zu müssen. Auch Front-Ends wie die Mensch-Maschine-Schnittstelle (Human Machine Interface – HMI) oder Dashboards können via Html5 sehr schnell im Low-Code-Framework entwickelt und eingesetzt werden. Hier spielt die Kombination von Plattform- und Applikationsfunktionen in einem System ihre Vorteile aus. (co)
Und so sieht der MES D.A.CH Verband die Thematik: