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Inhaltsverzeichnis
1. Herausforderungen auf dem Weg zur All Electric Society
2. Zur Steuerung von Gleichstrom-Netzen
3. Gleichstrom macht Schaltvorgänge herausfordernder
4. Gleichstrom in der Industrieversorgung
5. Schaltschrankbau muss effizienter werden
Herausforderungen auf dem Weg zur All Electric Society
KEM Konstruktion|Automation: Die Idee der All Electric Society (AES), die Phoenix Contact unterstützt, setzt über die Sektorenkopplung die ganzheitliche Betrachtung von Energieerzeugung, -verteilung, -speicherung und -verbrauch voraus. Welche Herausforderungen ergeben sich hieraus?
Dr. Stefan Jörres (Phoenix Contact): Mit Blick auf das Energiesystem hat Deutschland einen kompletten Systemwandel eingeleitet. Zuvor lief die Energie unidirektional von großen Kraftwerken über Verteil- und Übertragungssysteme zum Verbraucher. Zukünftig wird es eine Vielzahl dezentraler Einheiten geben – sowohl Erzeuger- als auch Speichereinheiten zur Stabilisierung der Netze –, die intelligent miteinander gekoppelt werden müssen. Zudem werden einzelne Sektoren Energie untereinander austauschen müssen, so dass diese in der richtigen Form dort zur Verfügung steht, wo sie benötigt wird. Diese Kopplung in einem Netz zu ermöglichen, das ursprünglich für eine unidirektionale Energieverteilung konzipiert war, ist eine Herausforderung.
Um es greifbarer zu machen: Erreicht etwa eine Photovoltaik-Anlage zur Mittagszeit einen Peak, gilt es eine Möglichkeit zu finden, die erzeugte Energie zu speichern. Ist umgekehrt der Verbrauch sehr hoch, muss dieser Speicher die Energie wieder zur Verfügung stellen. Gelingt uns dies auch per Sektorenkopplung, können wir unser Netz so weit entlasten, dass wir es nicht komplett erneuern müssen. Dafür bieten wir bereits Produkte, Lösungen und Dienstleistungen – und entwickeln diese stetig weiter.
Zur Steuerung von Gleichstrom-Netzen
KEM Konstruktion|Automation: Wie lässt sich denn ein solches, doch komplexes System steuern?
Jörres: Das ist in der Tat ein echte Herausforderung. In dem früheren unidirektionalen Netz konnten wir das sehr einfach über die Netzfrequenz steuern. Auf diese Weise ist das europäische Verbundnetz entstanden. Sinkt die Frequenz, muss mehr Energie erzeugt werden, steigt sie, muss weniger zugeführt werden. Das ist alles gut machbar bei Wechselspannung. Durch die Sektorenkopplung kommen nun aber auch Gleichstrom-Anteile dazu, etwa von Photovoltaik-Anlagen oder DC-Speichern. Bei der Kopplung derart verschiedener Systeme den Lastfluss zu steuern und damit Energie zu managen, ist die künftige Herausforderung. Deshalb geht es darum, die einzelnen Sektoren nicht nur leistungstechnisch, sondern auch kommunikativ miteinander zu vernetzen. Das setzt standardisierte Kommunikationsprotokolle innerhalb von verschiedenen Netzwerken voraus, um nicht an Systemgrenzen zu scheitern. Leider kommen wir mit der Sektorenkopplung in Bereiche, in denen nichts mehr standardisiert ist.
Automatisierung als Chance, eine nachhaltigere Welt zu gestalten
Man findet deswegen bislang nur wenige Planer, die beispielsweise solch eine Sektorenkopplung übergreifend planen und realisieren können – etwa über eine Fabrik oder Produktionsstätte beziehungsweise ein smartes Gebäude hinweg. Auch hier ist die ganz normale AC-Verteilung kein Problem – ganz im Gegensatz zum DC-Netz. Hier entwickeln wir derzeit technisch erst die entsprechenden Lösungen, um auch den DC-Anteil mit einbinden zu können. Dabei lernen wir, sowohl mit den Vorteilen umzugehen als auch die Nachteile in den Griff zu bekommen. Das betrifft zum Beispiel die Schutzorgane, um ein sicheres Netz aufzubauen.
Gleichstrom macht Schaltvorgänge herausfordernder
KEM Konstruktion|Automation: Wollen Sie das etwas näher erläutern?
Jörres: Schaltvorgänge beherrschen wir gut bei Wechselstrom. Wir können etwa gerade bei hohen Lasten sehr präzise beim Nulldurchgang schalten. Bei einem Gleichstromnetz gibt es keinen Nulldurchgang und die Frage ist, wie ich gerade bei hohen Lasten dann sicher schalten kann – unter anderem geht es auch darum, die Lichtbogen-Problematik in den Griff zu bekommen. Die Realisierung passender Schutzorgane ist also ebenfalls eine der wesentlichen Herausforderungen beim bevorstehenden Umbau der Energieversorgung. Zumal unsere Entwicklungseinheiten parallel noch vor der Herausforderung stehen, diese Schutzorgane zu einem marktfähigen Preis anzubieten.
Die noch fehlende Standardisierung erschwert das zusätzlich. Im europäischen Verbundnetz mit Wechselstrom erfolgt beispielsweise der Transport mit Höchstspannung von 220 oder 380 kV oder Hochspannung von 110 kV, die Mittelspannung arbeitet mit 10 bis 30 kV und die Niederspannung dann mit 230 und 400 V. So weit, so gut und standardisiert. Verschiedene Spannungslevel gibt es natürlich aber auch bei Gleichstrom – 100, 110, 200, 400, 690, 1000 oder 1500 V. Die verschiedenen Spannungsebenen müssen natürlich bei der Entwicklung der Schutzorgane berücksichtigt werden. Im Bereich der Schalt- und Schutzorgane wäre deswegen mehr Standardisierung ein Vorteil.
Gleichstrom in der Industrieversorgung
KEM Konstruktion|Automation: Welche Rolle wird denn künftig die Gleichstromversorgung spielen?
Jörres: Eine große – unserer Ansicht nach beginnt Nachhaltigkeit bereits mit dem richtigen Einsatz der DC-Technologie. Regenerative Energiequellen wie die Photovoltaik lassen sich damit wandlungsfrei nutzen und dank Energierückgewinnung steigt die Energieeffizienz weiter. Zusätzlich gehen wir von einem bis zu 55 % geringeren Kupferverbrauch aus und reduzierten Gerätekosten bei gleichzeitig geringerem Platzbedarf. Warum? Weil bereits heute die meisten Endgeräte mit Gleichstrom versorgt werden. Betreibe ich also Maschinen, Motoren oder Förderbänder direkt in einem Gleichstromnetz, entfallen die Wandlungsverluste der Erzeugung von Gleichstrom aus Wechselstrom, wie das bislang der Fall ist. Und die Bremsenergie einer Anlage lässt sich als elektrischer Strom wieder dem DC-Netz zuführen.
Mit unserem neuen Gebäude 60 am Hauptsitz Blomberg verfügen wir gerade mit Blick auf die Gleichstromversorgung über eine sehr reale Testanlage. Hier stehen alle energieerzeugenden und energieverbrauchenden Teilnehmer in einem elektrischen, thermischen und kommunikativen Verbund wie zuvor beschrieben – es handelt sich um eine Blaupause für die All Electric Society. Genutzt wird unter anderem ein Eisspeicher für den Bedarf an Wärme und Kälte. Und die Photovoltaik-Anlage mit 2,5 MWp sowie passende Speicherlösungen liefern die elektrische Energie. Bei den Speichern setzen wir sowohl auf Batteriespeicher als auch Wasserstoff.
KEM Konstruktion|Automation: Durch die erwähnte Einspeisung von Bremsenergie entsteht also ein Verbund aus Verbrauchern, die gleichzeitig auch Erzeuger elektrischer Energie sind?
Jörres: Genau so ist es. In dem Gebäude ist zum Beispiel ein Gleichstromnetz in Verbindung mit bidirektionaler Ladetechnik installiert. Damit sind E-Autos nicht nur Verbraucher – sie können auch temporär zu Energiespeichern werden und das Gebäude versorgen. Gerade durch diese Integrationsfähigkeit bringt ein Gleichstromnetz die Sektorenkopplung voran. Und in der industriellen Nutzung lassen sich wie erwähnt Verlustleistungen wirksam reduzieren – etwa durch die Nutzung der Rekuperationsenergie beim Bremsen von Elektromotoren. Ganz im Sinne der Erkenntnisse der Forschungsprojekte DC-Industrie und DC-Industrie2, die von der ZVEI-Arbeitsgemeinschaft Open DC Alliance (ODCA) weiterentwickelt werden. Oder um es auf den Punkt zu bringen: Gleichstrom aus erneuerbaren Energien kann leicht in die Produktion eingebunden werden und zugleich einen wichtigen Beitrag für mehr Energie- und Ressourceneffizienz leisten.
Schaltschrankbau muss effizienter werden
KEM Konstruktion|Automation: Um weltweit das für die AES erforderliche Stromnetz bis 2030 zu installieren, geht Phoenix Contact von einem Bedarf von 16 Millionen km neuen Leitungen und rund 5,5 Millionen Schaltschränken aus – wie lässt sich diese Aufgabe stemmen, insbesondere auch mit dem Blick auf den Fachkräftemangel?
Jörres: Diese Zahlen ergeben sich, wenn man alle verfügbaren Studien und Paper zusammenführt und davon ausgeht, dass unser Ziel die Schaffung eines neuen digitalen Netzes für die Stromversorgung ist. Und in der Tat: Ausschließlich in der Energieverteilung und -übertragung werden dann 5,5 Millionen Schaltschränke gebraucht. Nun ist die Zahl der Schaltschrankbauer begrenzt und sie lässt sich aufgrund des Fachkräftemangels auch nicht beliebig steigern. Umso wichtiger ist es deshalb, herauszufinden, wie wir einen Schaltschrank sowohl unter zeitlichen als auch Kostenaspekten effizienter aufbauen können. Damit rückt die gesamte Prozesskette des Schaltschrankbaus in den Fokus – von der Planung bis zur Produktion. Ein Lösungsansatz sind digital vollständig abbildbare Prozesse.
Um ein Beispiel zu nennen: Bei der Verdrahtung haben wir erkannt, dass rund die Hälfte der erforderlichen Zeit auf die Vorbereitung der Leiter und ihre Markierung entfällt. Genau hier setzen wir mit unseren Lösungen an und automatisieren diese Tätigkeiten auf Basis digital abgebildeter Prozesse – das Stichwort lautet digitaler Zwilling. Baue ich den gesamten Schaltschrank von vorne herein komplett digitalisiert als Zwilling auf, ergibt sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, schneller und effizienter zu produzieren.
Messe SPS 2023: Halle 9, Stand 310
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