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Rolls-Royce nutzt Virtual und Augmented Reality bereits

Digitale Pioniere
Rolls-Royce nutzt Virtual und Augmented Reality bereits

Am Rolls-Royce-Standort Dahlewitz, eine halbe Stunde südlich von Berlin, hat die Zukunft schon begonnen: Viele Trends wie etwa Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR) sind hier bereits im praktischen Alltag der Ingenieure angekommen. Predictive Maintenance, unterstützt per Machine Learning, ist ebenfalls schon in Reichweite.

Tobias Meyer, freier Mitarbeiter der KEM Konstruktion

Inhaltsverzeichnis

1. Vielseitige Simulationsmöglichkeiten
2. Digitaler Zwilling gespeist durch AR-Technik
3. Vorausschauende Wartung bereits Realität
4. Ganz ohne Fehler geht es nicht

 

In einem VR-Raum, der ganze Triebwerke raumfüllend in 3D darstellen kann, treffen sich bei Rolls-Royce Spezialisten aus unterschiedlichen Fachbereichen, um etwa Änderungen zusammen zu besprechen. Benötigt die Hydraulikabteilung etwas mehr Platz für eine zusätzliche Leitung, schaut sie zusammen mit anderen Disziplinen, wo man diesen schaffen könnte. Die Bewilligung des Raums gab die Geschäftsführung frei, als man Studien vorlegte, die zeigen, dass in VR-Umgebungen das Erfassen von Zusammenhängen wesentlich schneller abläuft: „Am Monitor werden bis zu 40 Prozent der Details nicht schnell genug wahrgenommen, in einer immersiven 3D-Umgebung dagegen nur 10 Prozent“, erklärt Marius Swoboda, Head of Engineering Science and Capability bei Rolls-Royce. Mit den Steuergeräten in der Hand können die Ingenieure ein im Maßstab 1:1 dargestelltes Triebwerk wie eine Zwiebel Schicht für Schicht auseinandernehmen oder nur für sie relevante Elemente anzeigen lassen. Da ihre Position im Raum selbst durch ihre 3D-Brille erkannt wird, passt sich der Blickwinkel automatisch an, etwa wenn man in die Knie geht, um ein Bauteil weiter unten zu begutachten.

Zudem wird in der zusammen mit der TU Cottbus entwickelten VR-Cave die Planung der Arbeitsplätze – bis zu ganzen Hallen – und der entsprechenden Montageschritte überprüft, bevor ein Triebwerk in Serie gebaut wird. Denn so eliminiert man eventuelle Schwierigkeiten schon im Vorfeld – bevor sie in der Realität auftreten.

Vielseitige Simulationsmöglichkeiten

Ganz am Anfang des Entwicklungsprozesses steht aber das Design des Kerntriebwerks: „Wir entwickeln nicht in jedem Fall ein komplett neues Triebwerk, sondern bauen auf unseren bisherigen Erfahrungen auf und bieten den Kunden für ihre Ansprüche optimierte Varianten an“, sagt Uwe Minkus, Head of Systems Design. Dabei werden vorgegebene Parameter wie Gewicht, Lärm, Preis, Treibstoffverbrauch oder die maximal mögliche Flugstrecke berücksichtigt. Die Optimierung erfolgt mit Hilfe eines komplexen Algorithmus, der quasi mit den Maßen des vorausgewählten Typs spielt und so eine Vielzahl möglicher Designs errechnet. Das erste Ergebnis hat er in fünf Minuten parat. „Wir lassen uns in ein bis zwei Tagen bis zu 2500 Entwürfe generieren, zu jedem gibt es dann automatisch eine erste CAD-Zeichnung. Die Auswertung nehmen wir aber über Diagramme vor, in denen wir die Entwürfe mit den vielversprechendsten, vom Kunden als wichtig angesehenen Parametern – Lärm, Verbrauch usw. – vergleichen. Würden diese Daten manuell erstellt, ergäben sie etwa 1000 gedruckte Seiten“, verdeutlicht Minkus die Zeitersparnis des Entwurfsalgorithmus. In der Praxis bedeutet das dann, dass ein neues Triebwerk einem bereits bestehenden zu 90 % gleicht, aber beispielsweise durch eine höhere Kerntemperatur und die dementsprechend geänderte Kühlung die favorisierten Werte erreicht.

Um die entstehenden großen Datenmengen für die Produktentwickler zugänglicher zu machen, setzt das Unternehmen auf eine spezifisch neu entwickelte App. Mit ihr können die Mitarbeiter in Dahlewitz unkompliziert und effektiv auf dem breiten Spektrum bereits vorhandener Kenntnisse aufbauen: In die App kann ein Triebwerksentwurf geladen werden, um anschließend diverse erwünschte Betriebsparameter ganz einfach per Schieberegler einzustellen. So kann sehr schnell überprüft werden, wie sich eine größere Flughöhe oder andere Startbedingungen auf Druck- oder die Temperatur eines Gasstroms auswirken. „Früher benötigten wir für 90 Prozent unserer zur Verfügung stehenden Daten hochspezialisierte Experten, um diese zu interpretieren. Heute kann quasi jeder am Entwicklungsprozess Beteiligte eine neue Situation sofort virtuell überprüfen“, sagt Minkus.

Auch in der Verifizierung von bereits erstellten Entwürfen hat Rolls-Royce die Computersimulationen bereits früh aufgegriffen. Minkus beschreibt deren Vorteil so: „Mit unseren Modellrechnungen können wir jetzt selbst komplexe Vorgänge wie den Verlust von Fan-Schaufeln im Bläser abbilden und mit hoher Genauigkeit vorhersagen.“ Wenn noch physisch getestet wird, dann aufgrund zwingender Vorgaben bei der Zertifizierung und zum Abgleich des Modells. „Aufwändige Versuche müssen nicht mehrfach wiederholt werden, was sowohl Zeit wie auch Kosten im Entwicklungsprozess einspart“, so Minkus weiter. Einzelne Aspekte, wie die Verbreitung von Kerosintröpfchen in der Brennkammer, untersuchen und simulieren universitäre Partner.

Die beschriebene App bildet mit ihren Algorithmen das ‚klassische‘ Triebwerks-Design des Unternehmens ab. Ganz neue Ansätze kann aber auch der Computer mit ein paar Maßänderungen so nicht kalkulieren. Aktuell arbeitet Rolls-Royce an einem Triebwerk, in dem erstmals ein Planetengetriebe verbaut wird und so der Bläser vorne (auch ‚Fan‘ genannt) langsamer drehen kann als die Niederdruckturbine selbst. Denn die beiden Elemente haben jeweils eigene Idealbereiche, die sich deutlich unterscheiden. Bei den bisherigen Triebwerken des Herstellers musste für die Drehzahlen ein Kompromiss gefunden werden, da die Niederdruckturbine und der Fan durch eine Welle fest verbunden sind. Das neue ‚Ultrafan-Triebwerk‘ soll in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts auf den Markt kommen, wobei das Planenten-Getriebe für die Übertragung von bis zu 100.000 PS Leistung ausgelegt sein wird – mehr als jedes andere Reduktionsleistungsgetriebe in der Luftfahrt bisher, denn für Großtriebwerke hat dieses Konzept bisher noch niemand umgesetzt. Aktuell werden in Dahlewitz bereits 70.000 PS auf den Prüfständen gefahren – die Montage der Teile aber wird schon heute in einer 3D-Simulation durchgespielt.

Digitaler Zwilling gespeist durch AR-Technik

Geht man weiter in die Fertigung, kommt man auch in der wie ein Reinraum wirkenden Montagehalle für Trent-XWB-Triebwerke nicht mehr um die virtuelle Realität herum: Mit einer Augmented-Reality-App überprüfen Mitarbeiter künftig, ob alle Komponenten vollständig montiert sind. Die Software zeigt auf einem Tablet dessen Kamerabild und legt in Echtzeit die Zeichnung der zu prüfenden Komponente darüber, beispielsweise einer Pumpe. Erkennt das System die korrekt installierte Baugruppe, bestätigt es den Vorgang. Aktuell wird das System in die Produktion eingeführt, später soll nicht mehr ein Mitarbeiter mit einem Tablet, sondern eine autonome Vorrichtung das Triebwerk virtuell auf Vollständigkeit abtasten. Ein digitaler Zwilling soll künftig jedes Bauteil und jeden Prozess beinhalten, wodurch ein Triebwerk und seine Fertigung lückenlos dokumentiert werden.

Da der Triebwerksbau im Vergleich zur Automotive-Produktion nach Qualitätsanspruch und Menge eher einer Manufaktur gleicht, werden sehr viele Montageschritte nicht automatisiert, sondern manuell von hochqualifizierten Facharbeitern vorgenommen. Um dabei etwa das korrekte Anzugsmoment einer Schraube sicher gewährleisten zu können, musste diese früher von einem Kollegen nochmals überprüft werden. Heute erkennt ein digital eingebundener Drehmomentschlüssel den Vorgang und übermittelt alle Werte an den Digitalen Zwilling.

Vorausschauende Wartung bereits Realität

Ist ein Triebwerk dann im Betrieb, liefert es fast kontinuierlich Daten an die Zentrale im brandenburgischen Dahlewitz. Die Millionen übertragenen Datenpunkte soll künftig einmal ein Netzwerk aus fest installierten Kameras im Inneren um optische Quellen erweitern. Diese sind durch Bleistift-große, bewegliche Periskope von den extremen Temperaturen entkoppelt und können so Live-Bilder aus dem Kerntriebwerk liefern. „Die Daten gehen zunächst an unser Operational Service Desk (OSD), von dem aus wir die gesamte Flotte unserer im Dienst befindlichen Triebwerke betreuen. Von dort wird dann das ‚Engine Network‘ mit den übermittelten Daten gefüttert“, erklärt Axel Vöge, Head of Digital Operations. Die Software ist eine Art Facebook für Triebwerke: „Je mehr wir über jedes einzelne wissen, desto genauer können wir es auf sein künftiges Verhalten hin einschätzen.“ Die Mehrzahl der Business-Jet-Daten wird nach der Landung übertragen, besonders kritische Informationen können bereits während des Fluges gesendet werden.

Stellen die Sensoren beispielsweise eine erhöhte Vibration fest, wird ein entsprechender Experte in Dahlewitz informiert. Er kann sich nun anhand des Engine Network umgehend ein Bild machen, ob es früher schon einmal ein ähnliches Verhalten an einem anderen Triebwerk gegeben hat. Anschließend entscheidet er, ob sofort Maßnahmen ergriffen werden sollten oder die Erfahrung zeigt, dass die Maschine ohne Risiko bis zur nächsten planmäßigen Wartung weiter laufen kann. Im Fall der sofortigen Reparatur kann der Mechaniker den früheren Lösungsweg direkt aus dem digitalen System nachvollziehen und dadurch auch von Notizen seiner Kollegen rund um den Globus profitieren.

Aber auch andersherum werden Vergleiche gezogen: Wenn beispielsweise besonders wenig Vibration auftritt, will man ebenfalls wissen, woran das liegt. Denn so könnten eventuell auch andere Triebwerke daraufhin optimiert werden. Jährlich werden etwa 3500 auffällige Abweichungen vom Durchschnitt überprüft, wodurch der Grundstein eines Datenstamms für das Machine Learning gelegt wird: „In den kommenden Jahren könnten wir die Diagnose im ersten Schritt komplett durch unsere Algorithmen erstellen lassen. Nur wenn diese keine passende Lösung finden, müsste noch ein Experte eingeschaltet werden“, schätzt Vöge. Er weist aber auch darauf hin, dass die konsequente Digitalisierung des Operational Service Desks – wie etwa durch das ‚Engine Networking‘ – und die dadurch verbesserten Abläufe bereits heute deutliche Wirkung zeigen: „Im Jahr 2008 konnten wir bei Störungen etwa zwei Drittel aller Maschinen ohne Verspätung wieder in die Luft bekommen. Stand heute schaffen wir das in 98 Prozent der Fälle.“

Um die Analyse von Daten im Konzern noch weiter vorantreiben zu können, hat Rolls-Royce bereits Ende 2017 die R2 Data Labs gegründet: An Standorten im United Kingdom, den USA, Singapur, Indien und Neuseeland sitzen in einzelnen Abteilungen, sogenannten Hubs, interdisziplinäre Teams aus Datenspezialisten zusammen mit Experten aus anderen Bereichen und arbeiten an konkreten Problemlösungen sowie neuen Ideen für den weiteren Ausbau der digitalen Infrastruktur des Konzerns. Ende 2018 hat man nun auch in Dahlewitz einen Hub für Künstliche Intelligenz geschaffen, der mit externen Partnern kooperiert, etwa dem Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering in Potsdam.

Ganz ohne Fehler geht es nicht

Fluggesellschaften wollen vermeiden, dass ihre Maschinen nicht eingesetzt werden können, etwa durch außerplanmäßige Wartungsarbeiten. Nutzungsausfälle dauern natürlich länger und werden sehr viel teurer, wenn ein Triebwerk vom Flügel genommen werden muss. Um diese Situation möglichst häufig vermeiden zu können, arbeitet Rolls-Royce zusammen mit verschiedenen Partnern sowie den Universitäten Nottingham und Harvard an Robotiklösungen. Komplizierte Arbeiten wie etwa das präzise Abschleifen von beschädigten Turbinenschaufeln erfordern einen erfahrenen Spezialisten, der aber nicht überall sofort verfügbar ist. Ein neues, lasergesteuertes System dagegen soll künftig einmal in jeder Werkstatt der Welt am Triebwerk installiert werden können, ohne die Wartungsexperten für diese Aufgabe vor Ort zu haben. Statt dessen übernimmt ein Spezialist dann ferngesteuert direkt aus der Zentrale des Triebwerkherstellers die eigentliche Arbeit. Das spart viel Zeit, das Triebwerk kann schnell wieder zurück in den Einsatz.

Ein weiteres Projekt sind sogenannte Snake Robots: Mehrere von ihnen könnten endoskopartig durch eine Serviceöffnung in das Triebwerk eingeführt werden und dort gemeinsam zum Beispiel eine beschädigte Beschichtung reparieren. Außerdem könnten sie als Träger eines ganzen Schwarms aus Mini-Robotern fungieren, die so tief im Triebwerk freigesetzt werden. Diese kriechen dann durch die schwer zugänglichen Bereiche und ermöglichen via Live-Video eine Inspektion. Aktuell messen die Prototypen noch 5 cm – zu groß für die Triebwerksöffnungen – das Ziel ist eine Reduktion auf wenige Millimeter in den nächsten fünf bis zehn Jahren. „Einige Technologien, wie etwa die Schwarmroboter, haben bis zum alltäglichen Einsatz noch einen langen Weg vor sich“, bestätigt deswegen auch James Kell, On-Wing Technology Specialist. „Die ferngesteuerten Schleifroboter aber werden schon getestet und wohl in wenigen Jahren eingeführt.“

Künftig soll die Vision der ‚Intelligent Engine‘ das Produkt und den Service so eng verbinden, dass sie nicht mehr zu trennen sind: Das Triebwerk soll künftig selbst den passenden Roboter für eine anstehende Inspektion bestellen und auf den großen Datenbestand zugreifen können, um zu entscheiden, ob es beispielsweise durch die Aschewolke eines Vulkans fliegen kann. Nach dem Ausbruch des isländischen Eyjafjallajökull etwa blieben im Jahr 2010 aus Mangel an Erfahrung vorsorglich alle Flugzeuge am Boden, was wirtschaftliche Milliardenschäden verursachte. Heute wäre man dank des Datenschatzes dagegen wesentlich sicherer, was die Einschätzung solch einer Extremsituation anginge.

www.rolls-royce.com

Kurzvideos zeigen die Robotiklösungen im Detail:
hier.pro/dnPr2

Systems Engineering im Fokus

Ingenieure bei der Teambesprechung

Mechanik, Elektrik und Software im Griff

Video-Tipp

Unterwegs zum Thema Metaverse auf der Hannover Messe...

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