Inhaltsverzeichnis
1. Die Cloud braucht zu viel Zeit
2. Steuerung hält Geräte für real
3. Austausch mit dem CAD-System
4. Datenbrillen entführen in die virtuelle Realität
5. Rechtssicherheit
Wenn Produktionsanlagen in Betrieb genommen werden, ist es in der Regel zu spät, um Fehler zu erkennen. Korrekturen, die dann vorgenommen werden müssen, kosten Zeit und Geld. Eine Lösung, dem Problem zu entgehen, ist die Abläufe vorher digital durchzuspielen – Unternehmen setzen daher zunehmend auf die virtuelle Inbetriebnahme. Anhand eines digitalen Prototypen, der mithilfe einer Simulationssoftware umgesetzt wird, lässt sich die Inbetriebnahme virtuell so oft durchführen, bis alles stimmt.
Die digitale Prototyp ist das elektronische Abbild der physikalischen Anlage. Ist diese in Betrieb genommen, begleitet er die Anlage als Digitaler Zwilling im Idealfall über deren gesamten Lebenszyklus hinweg. Mit ihm lassen sich Messungen und die Überwachung im laufenden Betrieb vornehmen. Auf dieser Basis können dann Modifizierungen an der Anlage getestet und durchgeführt werden. „Digital Twins revolutionieren unsere Industrie“, sagt Beate Freyer, Geschäftsführerin von Machineering. Ihr Unternehmen entwickelt die 3D-Simulations-Software Industrialphysics, mit der sich Digitale Zwillinge erstellen lassen. „Ziel dabei ist, zu jeder Zeit Statusdaten zwischen dem realen und dem Digitalen Zwilling im laufenden Betrieb auszutauschen, die permanent von Sensoren erfasst werden“, so Freyer weiter. „So können Unternehmen ihre Produktion ständig im Auge behalten, nachfolgende Prozessschritte digital vorspulen wie auch erste Abschätzungen über Materialverschleiß und Maschinenstillstand vornehmen.“
Die Cloud braucht zu viel Zeit
Die Daten sollen möglichst in Echtzeit vorliegen und verarbeitet werden. „In der Regel werden diese aber in der Cloud gesammelt“, ergänzt Georg Wünsch, der in der Geschäftsführung von Machineering für Technologie zuständig ist. Das kann zu Performance-Problemen führen – etwa wenn viele Daten aus einer großen Zahl von Maschinen ausgewertet werden sollen. „Stellen Sie sich vor, was man da an zusätzlichen Datenleitungen braucht.“
Machineering packt den Digitalen Zwilling daher in den Schaltschrank – wie Wünsch es formuliert. Will heißen: Machineering hat die so genannte Digital Twin Box entwickelt, die fertigungsnah – also im Schaltschrank – installiert wird und mit der sich die Maschinendaten hosten, verwalten, bearbeiten und nutzen lassen. Die Simulationen werden mithilfe von Industrialphysics umgesetzt. Da sich die Box in der Nähe der Maschine befindet, lässt sich „eine hohe Bandbreite zur Maschinensteuerung nutzen“, betont Wünsch. „So kann man auf Veränderungen sehr schnell reagieren.“Laut einem Datenblatt von Machineering liegt die Echtzeitfähigkeit unter einer Sekunde.
Einen Einsatzbereich sieht Wünsch auch in der Arbeitsvorbereitung auf der Maschine. Als Beispiel nennt er eine Verpackungsmaschine mit Pakettierroboter. Am Eingang der Maschine werden die einlaufenden Produkte vermessen. „Deren Größe wird an den Digitalen Zwilling übermittelt“, erklärt der Technik-Chef. „Dieser programmiert den Roboter entsprechend neu und ermittelt die optimale Stelle, an der das Produkt im Stapel positioniert wird.“ So biete sich die Möglichkeit, die Steuerungstechnik mit komplexen Funktionen aufzuwerten. Und er geht noch weiter: „Die sich selbst programmierende Maschine ist damit realisierbar.“
Steuerung hält Geräte für real
Der Digitale Zwilling im Schaltschrank hat aber noch einen anderen Vorteil. Vielen Unternehmen gilt die Cloud nach wie vor als Unsicherheitsfaktor. Wünsch sieht das genauso. „In der Produktion geht es immer um sensible Daten – zum Beispiel Informationen, was wie schnell produziert wird“, so der Technik-Chef.
Zumindest für eine Übergangszeit sollte der Digital Twin daher seiner Meinung nach im Schaltschrank untergebracht werden. Die Daten landen dann nicht in der Cloud – außerhalb der Firmenmauern – sondern werden in der inhouse installierten Box verarbeitet.
Um die virtuelle Inbetriebnahme einfacher zu gestalten, hat Machineering außerdem eine weitere Appliance entwickelt. Die Field Box 1 ermöglicht eine Rest-Bus-Simulation für Profinet und Ethernet IP. Diese wird mit der Simulationssoftware verknüpft und emuliert dann Profinet-Feldbus-Teilnehmer oder Ethernet-IP-Geräte, die noch gar nicht vorhanden sind. „Die Steuerung denkt quasi, dass es sich um reale Geräte handelt“, erklärt Wünsch. Die Emulation läuft komplett in der Box. Der Simulationsrechner verbraucht dafür keine eigenen Ressourcen, ebenso wenig benötigt er mehrere Ethernet-Steckplätze. Der Test einer Steuerung soll sich damit laut Machineering relativ einfach und schnell umsetzen lassen.
Austausch mit dem CAD-System
Den laufenden Betrieb zu unterstützen, ist aber nicht das einzige Aufgabenfeld für den Digitalen Zwilling. Laut Dr. Georg Wünsch sollte dieser bereits mit Beginn der Planung geboren werden. So könnten etwa mit der ersten Idee der späteren Maschine alle generierten CAD-Daten bidirektional mithilfe einer Schnittstelle von dem CAD-System in die Simulationssoftware übertragen werden und umgekehrt. Änderungen am simulierten Modell stehen dann auch im CAD-System zur Verfügung.
Die Simulationssoftware sei dabei „viel mehr als ein Werkzeug für die virtuelle Inbetriebnahme“, sagt Machineering-Chefin Beate Freyer. Sie fungiere stattdessen als zentrale Plattform, die auch anderen Fachabteilungen zur Verfügung stehe. So können die Fachbereiche Mechanik, Elektrik und Software auf dieselben Modelle zurückgreifen, die sie jeweils in ihrer nativen Entwicklungsumgebung bearbeiten, gemeinsam weiterentwickeln und mittels der Simulation im Zusammenspiel testen.
Der Digital Twin bringt nach Ansicht der Machineering-Verantwortlichen auch im weiteren Lebenszyklus viel Nutzen. Der Digitale Zwilling unterstützt Unternehmen beziehungsweise die Maschinenhersteller zum Beispiel auch bei der Weiterentwicklung der bestehenden Anlage. Alle geplanten Anpassungen können vorab durchgespielt werden. Das verkürzt Stillstandzeiten und spart Kosten sowie Zeit. Grundsätzlich berichten Unternehmen, die mit Simulationssoftware arbeiten, über einen Geschwindigkeitsschub. So konnten zum Beispiel Maschinenbauer wie Krones oder Somic die Inbetriebnahme beschleunigen und die Durchlaufzeiten reduzieren.
Datenbrillen entführen in die virtuelle Realität
Künftig könnten die Nutzer von 3D-Simulationen und Digitalem Zwilling noch tiefer in die virtuelle Welt eintauchen. Machineering bietet die Möglichkeiten, Datenbrillen an die hauseigene Software anzubinden. So können sich Anwender zum Beispiel mit der Virtual-Reality-Brille Oculus Rift in eine virtuellen Produktionshalle begeben und den laufenden Betrieb beobachten. Mit der Hololens von Microsoft ist auch die Nutzung von Augmented Reality möglich – also Verknüpfung von realer und virtueller Welt. Mit diesen Möglichkeiten lässt sich der Digitale Zwilling dann quasi hautnah in seiner eigenen Welt erleben.
Im Video-Interview auf der Messe SPS IPC Drives 2018 sprach Beate Freyer über die Entwicklungstrends von Machineering und wo sie die Lösung Industrialphysics im Unternehmen sieht:
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Rechtssicherheit
Der Digitale Zwilling kann nicht nur Prozesse beschleunigen. Auch aus rechtlicher Sicht bringt er Vorteile, wie Rechtsanwalt Philipp Reusch auf dem TecSummit des VDE vor kurzem dargelegt hat. So ist der Digitale Zwilling laut Reusch in Sachen Produktsicherheit nützlich, weil mit ihm bereits eine digitale Dokumentation mitgeliefert wird. Das gleiche gelte für die Produkthaftung. Zudem liefere der Digital Twin im Falle eines Produktrückrufs genaue Informationen über den Zustand eines Produkts an einem bestimmten Punkt seines Entstehungsprozesses. „Unternehmen sollten den Digitalen Zwilling in ihre Produkthaftungsdenke integrieren“, so Reusch auf der Veranstaltung.
„Digital Twins revolutionieren unsere Industrie.“
Dr. Georg Wünsch, Gründer und CTO, Machineering
Bild: Machineering
„Die sich selbst programmierende Maschine ist realisierbar.“