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Mechatronischer Helfer

Leichtbauarm für Assistenzroboter
Mechatronischer Helfer

Lena Kredel hat Multiple Sklerose. Sie kann weder Arme noch Beine bewegen. Und dennoch nimmt sie am Berufsleben teil. Die aus Bad Segeberg stammende Literaturwissenschaftlerin macht an der Universität Bremen eine Ausbildung zur Bibliothekarin. Das Besondere: Als Werkzeug nutzt sie den Serviceroboter „Friend“, dessen Leichtbauarm eine selbständige Interaktion mit der Umgebung ermöglicht. Robotikspezialisten des Instituts für Automatisierungstechnik (IAT) Bremen trimmen den mechatronischen Helfer derzeit so weit, dass Kredel künftig in der Universitätsbibliothek selbständig Bücher katalogisieren kann.

Der Autor Christopher Parlitz ist Referent Service Robotik bei der Schunk Mobile Greifsysteme GmbH, Lauffen/Neckar

„Friend ist der Glücksfall meines Lebens“, berichtet Kredel mit strahlenden Augen. Das Kürzel Friend steht für „functional robot arm with user-friendly interface for disabled people“. – Klingt ein klein wenig klobig und sieht auf den ersten Blick auch ein klein wenig klobig aus: ein elektrisch angetriebener Rollstuhl, ausgestattet mit Monitor, allerhand Sensorik und – als zentrales Element – einem Leichtbauarm des Kompetenzführers für Spanntechnik und Greifsysteme Schunk.
Per Kopf-Joystick und Spracherkennung steuert Kredel ihren Assistenzroboter, erfasst Bücher in einer Standardsoftware für Bibliotheken und nutzt zum Nachschlagen einen gewöhnlichen Internetbrowser. Die dabei verwendete Sprachsoftware nutzte sie zuvor auch schon zu Hause, um persönliche Briefe zu schreiben.
Der etwas ruppige Kommandoton, den sie anschlägt, um die Bücher zu katalogisieren, ist allein der besseren Funktion der Software geschuldet, denn eigentlich wäre ihr eine menschlichere Stimmlage wesentlich lieber. Schließlich ist Friend im Laufe der Zeit wirklich zu einer Art Freund geworden. Seine Nutzung und die damit verbundenen Aufgaben machen ihr große Freude. Kredel genießt sichtlich die mit dem System gewonnene Freiheit und Selbständigkeit.
Mensch und Roboter arbeiten Hand in Hand
Seit 1997 forscht das IAT Bremen an robotergestützten Assistenzsystemen. Die Lösung, mit der Kredel heute arbeitet, ist die nunmehr vierte Generation. Das System basiert auf dem Konzept der geteilten Autonomie: Was der Roboter selbständig lösen kann, löst er alleine. Stößt er an Grenzen, greift die Nutzerin ein, beispielsweise wenn die Greifposition korrigiert werden muss oder wenn es zu unvorhergesehenen Störungen kommt. Nach Angaben von Torsten Heyer, Projektleiter beim IAT, lassen sich auf diese Weise derzeit 95 % aller Vorgänge ohne fremde Hilfe lösen.
Für ein perfektes Teamwork werden die Umgebungsbedingungen autonom über eine 3D-Kamera und eine Infrarotkamera über dem Kopf der Nutzerin erfasst. Startet Kredel das System, verortet die Kamera vollautomatisch das Regal, die Bücher und die Ablageposition. Anschließend fährt der Leichtbauarm selbständig an die ermittelte Greifposition. Marker und Farbmarkierungen dienen dem System zur Orientierung. Die Kontrolle des gesamten Greifprozesses liegt bei Kredel.
Hierzu wurde das System mit zahlreichen Features angereichert, die eine Beurteilung und Überwachung des Greifprozesses ermöglichen. Eine Kamera am Robotergreifer überträgt kontinuierlich Livebilder vom Greifprozess, die die Nutzerin unmittelbar vor sich auf einem Monitor sieht. Zugleich dient die Kamera als Leselupe, mit der selbst kleine Schriften in den Büchern entziffert werden können. Stößt das System an Grenzen, greift Kredel ein.
Vielseitig einsetzbarer Leichtbauarm
Zentrales Element des Assistenzroboters ist der Leichtbauarm LWA 3.10 von Schunk, ein modular aufgebauter Greifarm mit sieben Freiheitsgraden, wobei drei zur Orientierung, drei zur Positionierung und einer zur Umgehung von Hindernissen genutzt wird. Im Gegensatz zu klassischen Industrierobotern sind die Leichtbauarme des engagierten Familienunternehmens gezielt darauf ausgelegt, wechselnde Tätigkeiten im unmittelbaren Umfeld des Menschen zu automatisieren. Dazu zählen Prüf- und Montageaufgaben ebenso wie der Einsatz in Assistenzsystemen.
Eine dauerhaft hohe Wiederholgenauigkeit von ±0,1 mm bietet für präzise Greifoperationen optimale Voraussetzungen. In der Regel werden die Leichtbauarme portabel, also ortsveränderlich, oder sogar mobil eingesetzt. Die maximale Zuladung des leistungsdichten Greifarms beträgt 10 kg. Bei einer batterietauglichen Spannungsversorgung von 24 V beträgt sein durchschnittlicher Strombedarf unter 3 A. Stünde keine Steckdose zur Verfügung oder würde das System komplett mobil eingesetzt, könnte der Assistenzroboter über die serienmäßige Rollstuhlbatterie zwei bis drei Stunden lang autark betrieben werden.
Da die Leistungsaufnahme des Greifarms unter 100 W liegt, ist die Verletzungsgefahr bereits in der Standardversion äußerst gering. Um selbst dieses Risiko auszuschließen, nutzt das IAT Bremen bei dem Assistenzroboter zusätzlich Kraft-Momenten-Sensoren sowie Sensoren zur räumlichen Überwachung. Da die Antriebsverstärker und -regler unmittelbar in den Leichtbauarm eingebettet sind, benötigt das System keinen separaten Schaltschrank.
Die komplette Steuer- und Regelelektronik ist in die Gelenkantriebe integriert. Position, Geschwindigkeit und Drehmoment sind flexibel regelbar. Dank integrierter Intelligenz, universellen Kommunikationsschnittstellen und Kabeltechnik für Datenübertragung und Spannungsversorgung lässt sich der Arm schnell und einfach in bestehende Steuerungskonzepte einbinden. Zudem kann er von Embedded-PCs gesteuert werden. Aufgrund der leichten, hochsteifen Konstruktion arbeitet er energieeffizient, was sich bei mobilen Einsätzen in Form langer Laufzeiten auszahlt.
Da der Assistenzroboter bei der Anwendung in Bremen einen Greifradius von 180 cm abdecken muss, wirkt er auf den ersten Blick etwas wuchtig. Ein Wechsel zum kompakteren Powerball-Lightweightarm LWA 4.6 wäre nach Angaben von Heyer aufgrund des durchgängigen Baukastenprogramms von Schunk jederzeit möglich, jedoch mit der Folge, dass der Rollstuhl kontinuierlich neu positioniert werden müsste, um die Bücher von vorne zu greifen. Derzeit will man daher an der größeren Lösung festhalten.
Assistenzsystem lässt sich auch von Laien bedienen
Programmiert wird der Leichtbauarm über das Schunk-eigene Interface. Darauf aufgesetzt ist die Bewegungsplanung, die an das Interface übergeben wird. Die einzelnen Bewegungsstrategien wiederum wurden vom IAT entwickelt. Aus Sicht von IAT-Mitarbeiter Christos Fragkopoulos war die Programmierung des Leichtbauarms vergleichsweise einfach. „Über das Interface steuern wir wahlweise die Geschwindigkeit oder den Strom. Wie die Module letztlich miteinander arbeiten, hängt vom individuellen Programm ab. Das gehört zum wissenschaftlichen Teil, den das IAT geleistet hat“, so Fragkopoulos.
Da das System komplett modular aufgebaut und jede Komponente eigens programmiert ist, lassen sich einzelne Module bei Bedarf schnell und einfach ersetzen. Um auch Robotik-Laien die Bedienung des Assistenzsystems zu ermöglichen, hat das IAT mit Unterstützung Kredel eine allgemeinverständliche Bedienoberfläche zur Steuerung des Leichtbauarms entwickelt.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Lag die reine Handlingzeit für ein einzelnes Buch anfangs noch bei rund 17 min, benötigt Kredel heute nur noch zwischen 5 und 7 min für die reine Handhabung. Das Katalogisieren dauert etwa 15 min. Im nächsten Schritt soll nun die Verlässlichkeit des Systems weiter erhöht werden. Das Ziel ist es, im Laufe der Zeit eine Erfolgsquote von 99,9 % zu erreichen.
Nach Ansicht von Heyer zeigt das vom Bremer Integrationsamt mit 400.000 Euro geförderte Modellprojekt „Reintegrarob“, welche Potenziale in Assistenzrobotern stecken. „Im Idealfall können Nutzer nach einer Integrations- und Orientierungsphase vollständig an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden, ohne dass sie eine persönliche Assistenz benötigen.“
Schunk, Tel.: 07133 103-2696, E-Mail: automation@de.schunk.com
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