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MBSE schlägt bei komplexen Trade-Off-Analysen MS Excel

Produktentwicklung bei komplexen Systemen
MBSE schlägt bei komplexen Trade-Off-Analysen MS Excel

Model-based Systems Engineering (MBSE) ist nicht neu, doch im Tagesgeschäft bei den meisten noch nicht angekommen. Welche Vorteile die Methodik hinter dem MBSE bietet, zeigt ein Projekt des MBSE Experience Labs, in dem vier Masterstudenten der HAW Landshut die Vor- und Nachteile des modellbasierten Arbeitens bei einer Trade-Off-Analyse zur letzten Meile in der Logistik untersuchten. Die Erkenntnis dabei: Das ist es gar nicht so aufwändig, wie viele meinen – man kann klein anfangen ohne 20 Jahre lang Erfahrung mit MBSE haben zu müssen.

Michael Wendenburg, Fachjournalist für CAx/PLM-Themen, Sevilla und Prof. Dr. Matthias Dorfner, Leiter des Masterstudiengangs Systems Engineering an der HAW Landshut

Inhaltsverzeichnis

1. Methodik des MBSE im Fokus
2. MBSE erlaubt schnelle Einarbeitung
3. Bewertung von vier System-Architekturen
4. MS Excel stößt bei komplexen Anforderungen an Grenzen
5. Einmalige Verknüpfung der Varianten beim MBSE vereinfacht die Arbeit
6. MBSE erleichtert nachträgliche Anpassungen
7. Anpassungsfähiger MBSE-Ansatz erschließt Vielfalt
8. Tabellenkalkulation hat ihre Berechtigung
9. Fazit

Das MBSE Experience Lab ist ein branchenübergreifendes Konsortium mehrerer Unternehmen und akademischen Einrichtungen, das sich zum Ziel gesetzt hat, anhand von (Bei-)Spielprojekten bestimmte Herausforderungen des modellbasierten Systems Engineerings zu untersuchen und die gesammelten Erfahrungen dann den Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Bei einem Projekt zur letzte Meile in der Logistik, das seitens des Labs von David Byrne, Andreas Stratenberg und Dr. Peter Sandl betreut wurde, ging es vordergründig darum, vier verschiedene System-Architekturen eines fiktiven Last Mile Logistics-Systems (LML) für Ingolstadt unter verschiedenen Annahmen zu bewerten. Alle Optionen sahen eine vollautomatische Zustellung der Pakete über autonom fahrende Trägerfahrzeuge und/oder Flug- bzw. Fahrdrohnen vor.

Methodik des MBSE im Fokus

Eigentlich ging es bei dem Projekt aber nicht um die Logistik, sondern um die Methodik. Die Studenten Erol Haydn, Minja Marinkovic, Matthias Eschbaumer und Manuel Schmuck untersuchten bei der Trade-Off-Analyse der verschiedenen System-Architekturen, unter welchen Umständen das modellbasierte Arbeiten der Verwendung klassischer Tabellenkalkulations- und Präsentationsprogramme überlegen ist. Dazu bearbeiteten sie das Projekt simultan in Microsoft Excel und im Cameo Systems Modeler, dem MBSE-Tool von Dassault Systèmes.

MBSE erlaubt schnelle Einarbeitung

Die vier Studenten sind keine Logistik-Experten, sondern haben im Bachelor Automobilwirtschaft- und -technik bzw. Maschinenbau studiert. Das LML-System diente ihnen nur als ‚Spielwiese‘ für die Erprobung des modellbasierten Arbeitens, das sie im Masterstudium erlernten. Sie sollten dabei auch kein vollumfängliches MBSE-Projekt unter Nutzung aller Elemente der Systems Modeling Language SysML erstellen, sondern gezielt die Funktionen nutzen, die einen Mehrwert bei dieser Art von Trade-Off-Analyse versprechen. In nur drei Monaten haben sie sich mit der Methode und den Tools so gut vertraut gemacht, dass sie diese Aufgabe bewältigen konnten.

Model Based Systems Engineering (MBSE)

Bewertung von vier System-Architekturen

Sowohl die Ausgangslage des Projekts als auch die zu untersuchenden System-Architekturen waren vom MBSE Experience Lab vorgegeben. „Unsere Aufgabe bestand darin, eine ganzheitliche Trade-Off-Analyse zu machen, sowohl was die Umsetzbarkeit der Architekturen anbelangt als auch hinsichtlich der Kosten, der Zahl der benötigten Fahrzeuge, des Paketvolumens, der Zustellzeiten etc.“, erklärt Projektleiter Erol Haydn. Für die Bewertung wurden sowohl die Lifecycle-Kosten für Entwicklung, Beschaffung, Betrieb, Instandhaltung und Stilllegung herangezogen als auch nicht-monetär bewertbare Kriterien wie die Kundenzufriedenheit, die man bei einem realen Anwendungsfall z.B. durch eine Kundenbefragung erfassen würde. In einem weiteren Projektschritt untersuchten die Studenten, wie sich unterschiedliche Zukunftsszenarien bzw. Annahmen auf die Bewertungsergebnisse auswirken würden – z.B. ein Kapazitätsausbau von 20 % oder eine höhere zulässige Geschwindigkeit autonom fahrender Fahrzeuge.

MS Excel stößt bei komplexen Anforderungen an Grenzen

Sowohl für die Berechnung mit MS Excel als auch für die Modellierung des LML-Systems mit dem Cameo Systems Modeler waren einige Vorarbeiten erforderlich. Zunächst einmal mussten die Studenten die Anforderungen der Stakeholder an das Gesamtsystem, die nur grob spezifiziert und z.T. recht widersprüchlich waren, genauer erfassen und mit dem ‚Auftraggeber‘ abstimmen. Und sie mussten sich auch mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen beschäftigen. Daraus leiteten sie dann die eigentlichen System Requirements an die vier Architekturen ab. Im Unterschied zu der Arbeit mit MS Excel mussten sie in Cameo erst sämtliche System-Bausteine modellieren, um die Berechnung starten zu können. Das habe die meiste Zeit in Anspruch genommen, sagt Haydn.

„Am Anfang haben wir wirklich gedacht, uns reicht Excel“, erzählt Manuel Schmuck. Im Laufe des Projekts stellte sich dann aber heraus, dass Tabellenkalkulations- und Präsentationsprogramme bei komplizierteren Aufgabenstellungen schnell an ihre Grenzen stoßen. In Microsoft Excel erstellte Berechnungen und Bewertungen werden bei steigender Zahl von Abhängigkeiten und Verknüpfungen zunehmend ineffizienter und fehleranfälliger. Außerdem müssen zur weiteren Analyse und Darstellung oft Daten aus anderen Programmen wie Simulationsergebnisse eingebunden werden. Da geeignete Schnittstellen zwischen den Tools fehlen, ist eine mehrfache Dateneingabe erforderlich, was zu Inkonsistenzen führen kann.

Einmalige Verknüpfung der Varianten beim MBSE vereinfacht die Arbeit

Der wesentliche Unterschied bei der Arbeit mit Microsoft Excel und Cameo Systems Modeler besteht darin, dass bei der Tabellenkalkulation direkt die Zellen mit den Eingabefeldern verknüpft werden, so dass sie bei jeder Änderung angepasst werden müssen. Die Gefahr, dass sich bei der Übertragung der Zellbeziehungen Fehler einschleichen, ist groß. Beim modellbasierten Ansatz werden hingegen Variablen definiert und über Constraint-Blöcke und ihre Parameter verknüpft, wie Manuel Schmuck sagt: „Diese Verknüpfung muss ich nur einmal machen. Danach ändere ich nur noch die Werte in der Eingabetabelle, so dass der Aufwand für die Berechnung zusätzlicher Varianten oder die Berücksichtigung weiterer Szenarios nicht wesentlich größer gewesen wäre.“

MBSE erleichtert nachträgliche Anpassungen

Bei der modellbasierten Durchführung der Trade-Off Analyse werden die Varianten mit den entsprechenden Eingangswerten in sogenannten Instance-Tables festgehalten. Diese Tabellen können nachträglich einfach um weitere Varianten ergänzt werden. Auch die Änderung der Berechnungsmethode erfordert nur eine kleine Anpassung im zugehörigen Constraint-Block. Dadurch ermöglicht der modellbasierte Ansatz nachträgliche Modifikationen sowie Erweiterungen um neue Varianten mit wenig Aufwand und mit niedrigem Fehlerpotenzial. Gleichzeitig erleichtert er die Wiederverwendung der einmal erstellten Modelle für künftige Projekte, was den anfänglichen Mehraufwand relativiert.

Die Vorteile des modellbasierten Ansatzes zeigten sich in dem Projekt besonders deutlich, als die Studenten den zu Beginn gewählten Detaillierungsgrad aufgrund neuer Erkenntnisse anpassen mussten. Im Unterschied zum Cameo Systems Modeler verursachte die ausführlichere Systembetrachtung in Microsoft Excel einen massiven Änderungsaufwand, da die Rechenoperationen entsprechend der Anzahl der hinzugefügten Varianten vervielfacht werden mussten. Eine nachträgliche Änderung der Berechnungsmethode ist somit sehr zeitaufwändig und durch die steigende Anzahl von Zellverknüpfungen auch sehr fehleranfällig.

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Anpassungsfähiger MBSE-Ansatz erschließt Vielfalt

Eine der wesentlichen Erkenntnisse aus dem Projekt ist, dass man mit MBSE fast alles machen kann, wenn man es auf den jeweiligen Anwendungsfall anpasst. „Wir haben nur einen kleinen Ausschnitt der Möglichkeiten genutzt und auch den Detaillierungsgrad nicht sehr hoch angesetzt, was aber für unseren Anwendungsfall völlig ausreichend war“, sagt Haydn. „Die Kernbotschaft ist, dass man klein anfangen kann und nicht 20 Jahre lang Erfahrung mit MBSE haben muss. Wir sind damit nach einem Semester weitergekommen als die Experten vom MBSE Experience Lab erwartet hätten.“

Gerade bei komplexen und aufwändigen Entwicklungsprojekten bietet der MBSE-Ansatz neben einer geringeren Fehleranfälligkeit deutliche Zeitvorteile und eine bessere Übersichtlichkeit. Während einfache Sachverhalte ressourcensparend mit bekannten Tabellenkalkulationsprogrammen umgesetzt werden können, ist die modellbasierte Arbeitsweise bei komplexen Aufgaben wie der durchgeführten Trade-Off Analyse überlegen. Der entscheidende Mehrwert ist, dass die vielen Daten einfacher beherrschbar sind und Änderungen sich besser nachverfolgen lassen. Ein weiterer, dass die definierte Syntax bei allen Projektbeteiligten für ein gemeinsames Verständnis sorgt, was die Kommunikation vereinfacht. Dadurch lassen sich Konzeptfehler und Unstimmigkeiten über das (zu entwickelnde) System frühzeitig aufdecken und korrigieren.

Tabellenkalkulation hat ihre Berechtigung

Bei steigender Systemkomplexität haben Tabellenkalkulationsprogramme Nachteile. Dessen ungeachtet sind sie ein wichtiges Hilfsmittel, um z.B. Konzeptansätze schnell und unkompliziert darzustellen oder Daten in das MBSE-Tool einzulesen. Deshalb lässt sich die Frage, ob eine Trade-Off Analyse zukünftig ausschließlich modellbasiert durchgeführt werden sollte, nicht eindeutig bejahen. Als beste Lösung erscheint eine Synthese, die es ermöglicht, kleine Arbeitspakete schnell zu erledigen und zugleich ein langfristig effizientes Modell eines komplexen Systems aufzubauen.

Fazit

Das modellbasierte Arbeiten bietet nicht nur bei Trade-Off-Analysen Vorteile, sondern bei allen Aufgaben, die mit der Produkt- bzw. Systementwicklung zu tun haben, ist Erol Haydn überzeugt, und Manuel Schmuck stimmt zu: „Ich erstelle für meine Masterarbeit gerade ein App-Konzept. Schon bei der Definition der Anforderungen hat MBSE Vorteile. Das Modell wächst Schritt für Schritt und beinhaltet alle Anforderungen, was die Übersichtlichkeit und Traceability erhöht.“ Die beiden empfehlen deshalb gerade Ingenieuren, die MBSE schon kennen, aber noch nicht von den Vorteilen des Ansatzes überzeugt sind, sich mal genauer damit zu beschäftigten. (co)

www.haw-landshut.de/master-se

Weitere Details zum MBSE Experience Lab:
hier.pro/YPHTt

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