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Georg Hünnemeyer im Interview zu Systems Engineering für KMU

Praktiker zum Systems Engineering
Georg Hünnemeyer, SE-Spezialist und Prozessberater

Georg Hünnemeyer, SE-Spezialist und Prozessberater
Georg Hünnemeyer, Geschäftsführer Hünnemeyer Consulting GmbH Bild: Hünnemeyer Consulting
Im Systems Engineering (SE) stecke Potenzial für die gesamte Unternehmenswelt, erläuterte uns Georg Hünnemeyer, selbstständiger Systems Engineer mit langjähriger Erfahrung in Großprojekten, für die Rubrik „Aus der Praxis des Systems Engineering“. Den Blick für kleinere Unternehmen hat er dabei aber nicht verloren: Der gelernte Ingenieur verrät, warum SE auch für kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) sinnvoll ist und wie sie vorgehen sollten.

Interview: Hannah Bartl, Borgmeier Public Relations, Delmenhorst

Hannah Bartl: Wenn von Systems Engineering die Rede ist, herrscht häufig die Meinung vor, dies sei nur etwas für Großprojekte beziehungsweise. große Unternehmen, die etwa in der Automobil- oder Luftfahrtindustrie tätig sind. Wie kann der klassische Mittelständler von Systems Engineering profitieren?

Georg Hünnemeyer: Das ist eigentlich ganz leicht, wenn man Systems Engineering nicht mit einem hohen Dokumentationsaufwand verwechselt. SE hilft dabei, die Kundenwünsche zu verstehen und genau die Anforderungen umzusetzen, die ein Ingenieur nachvollziehen kann. Es existieren ganz unterschiedliche Vorstellungen von Systems Engineering, komplexe Prozesse aus der Luftfahrt werden gar mit Systems Engineering gleichgesetzt. Doch die Projektgröße liegt im Auge des Betrachters. Der in der Luftfahrt betriebene Entwicklungsaufwand kommt nicht durch SE-Methoden zustande, sondern durch Gesetze oder Forderungen bei der letztendlichen Zulassung des komplexen Produkts. SE hilft diese Komplexität systemisch zu erfassen. Von der Komponentenfertigung bis zu komplexen Maschinen – bei jeder Produktentwicklung müssen immer die gleichen Fragen beantwortet werden, um den Kundenwünschen gerecht zu werden. Die Antworten auf diese Fragen bestimmen den Aufwand, wobei SE jeden unnützen Aufwand vermeidet. Auch wenn ein Produkt auf den ersten Blick einfach scheint, der entsprechende Einsatzkontext ist es häufig nicht. SE-Methoden helfen dabei, diesen Kontext zu erfassen, in Anforderungen zu übersetzen und so termin- und budgetgerecht das Produkt je nach Kundenwunsch zu entwickeln oder anzupassen. Außerdem ändern sich die Geschäftsmodelle in allen Branchen grundsätzlich, sodass die Nutzung von SE-Methoden generell wichtiger wird. So tritt beispielsweise der Produktverkauf immer mehr in den Hintergrund. Statt ‚Sell the product‘ heißt es nun ‚Sell with the product‘. Es kommen außerdem immer mehr Dienstleistungskonzepte auf, sodass die Komponente der Total Cost of Ownership und ein stimmiger Businessplan an Wichtigkeit zunehmen. An das Produkt stellen Kunden dabei Anforderungen wie eine hohe Zuverlässigkeit bei geringem Wartungsaufwand. Das Thema Vernetzung spielt zusätzlich eine immer größere Rolle, sodass auch die Ingenieursdisziplinen sich gewissermaßen vernetzen müssen. Damit steigt der Kommunikationsaufwand erheblich und SE-Methoden ermöglichen es, dieser steigenden Komplexität Herr zu werden. Schließlich werden unabhängig von der Projektgröße immer dieselben Fragen gestellt. Dabei spielen Kundenwünsche, Funktionen, Vorgehensweise, Zeitplan und Kosten generell eine Rolle. Ohne das richtige SE-Verständnis kann der Projektmanager diese Fragen nicht angemessen beantworten. Denn Systems Engineering beeinflusst die Sicht auf das Produkt und damit die Art und Weise, wie entwickelt wird. Diese Denkweise ist aber unabhängig von der Größe des Projekts oder der Entwicklungszeit.

Bartl: Und warum ist Systems Engineering noch nicht im Mittelstand angekommen? Wo sehen Sie die Gründe hierfür?

Hünnemeyer: Viele KMUs gelten als hervorragende Spezialisten auf ihrem technischen Gebiet und erreichen so weltweit Marktführerpositionen. Damit wissen diese Unternehmen, dass die Nachfrage für ihr Produkt konstant bleibt. Häufig übernehmen KMUs die Teilfertigung für Ersthersteller – OEMs genannt –, binden sich durch langfristige Verträge, wähnen sich in Sicherheit und halten – leider – an Altbewährtem fest. Junge Ingenieure kommen von den Universitäten in die Firmen und lernen von den erfahrenen Mitarbeitern, wie man bei der Entwicklung vorgeht. Dadurch verbessern Unternehmen oftmals nur ihre Technologie, setzen vielleicht neue Tools ein, aber dass der Entwicklungsprozess nicht stimmt, wird nicht wahrgenommen. Denn ein Ergebnis kommt so oder so zustande, unabhängig vom bestehenden Verbesserungspotenzial im Entwicklungsprozess. Gerade KMUs erkennen die Effizienzsteigerung und die Innovationskraft, die mit einer veränderten Betrachtungsweise einhergehen, noch nicht. Digitalisierung und Industrie 4.0 hängen zwar wie ein Damoklesschwert über ihnen, aber viele KMUs sehen noch nicht die Auswirkungen oder bemerken sie erst, wenn der Umsatz zurückgeht. Das Problem nehmen KMUs zwar wahr, aber sie wissen nicht, wie man der Bedrohung proaktiv begegnen kann. Dazu kommen die Vorurteile, die im Mittelstand gegenüber Vorgehensweisen der Großindustrie herrschen, obwohl die gesamte Industrie die gleichen Fragen an die Zukunft beantworten muss.

Bartl: Was müssen kleine und mittelständische Unternehmen beachten, wenn sie die Methode Systems Engineering für ihr Unternehmen in Betracht ziehen?

Hünnemeyer: Eigentlich nichts, sie brauchen nur den Mut, Veränderungen zuzulassen. Entscheiden sich Verantwortliche für SE, zieht sich die Veränderung durch das gesamte Unternehmen inklusive der Organisation und der Mitarbeiterführung. Systems Engineering muss von der Unternehmensleitung gewollt und unterstützt werden, sie muss sich dem Ansatz verschreiben, wenn das Unternehmen am Markt erfolgreich bleiben will. Bei der Einführung von SE-Methoden sollten sie sich deshalb in jedem Fall einen erfahrenen Partner ins Haus holen. Es ist wie mit jeder Entwicklung: Einmal falsch angefangen, lässt sich der Fehler nur durch hohen Nacharbeitungsaufwand beheben. Eine geeignete Roll-Out-Strategie macht dabei die Verbesserung für alle Beteiligten spürbar. KMUs sollten sich klarmachen, dass sie auch als Unternehmen Teil des Produkts sind.

Bartl: Wo sehen Sie die Einsatzmöglichkeiten von Systems Engineering im Mittelstand? Wann ist es sinnvoll, Systems Engineering einzusetzen, und wann nicht?

Hünnemeyer: Die Stärke des Mittelstandes heißt Schnelligkeit – KMUs reagieren nun einmal besonders schnell auf Kundenwünsche. Diese Stärke gilt es nachhaltig zu vergrößern, denn nur schlanke Organisationen ermöglichen dauerhaft schnelles Handeln. Der Innovationsdruck wächst auch im Mittelstand, sodass Freiräume geschaffen werden müssen, um Innovationen zu ermöglichen. Mit Systems Engineering lässt sich bereits erfolgreiches Design strukturiert erfassen und eine gezielte Wiederverwendung ermöglichen. Doch Neuentwicklungen finden sich, im Gegensatz zu Anpassungen, selten im Mittelstand. Aber gerade diese Anpassungen und Erweiterungen dürfen das Basisprodukt oder die Plattform nicht zu stark ändern, da sonst der Verwaltungsaufwand für die Varianten steigt. SE ermöglicht ein effizientes Variantenmanagement und den konsequenten Überblick über die Plattform sowie die gezielte Ermittlung notwendiger Änderungen. Denn Systems Engineering betrachtet das Produkt immer in seinem operativen Kontext – unabhängig davon, ob es sich um eine Dienstleistung oder ein tatsächliches Produkt handelt – und arbeitet dabei mit einer systemischen Betrachtung sowie vorgeschlagenen Entwicklungsprozessen. Systemisches Denken ist nicht skalierbar, die notwendigen Tätigkeiten, also das systematische Arbeiten, hingegen sehr wohl. Daher kann Systems Engineering immer angewendet werden, aber es muss nicht immer jedes Werkzeug aus dem Methodenkoffer benutzt werden.

Bartl: Im Regelfall lebt Systems Engineering von einer langen Laufzeit. Lässt sich der Ansatz auch abseits der viel genannten zweijährigen Laufzeit anwenden? Und wie lassen sich die Prozesse beschleunigen?

Hünnemeyer: Zunächst einmal verringert Systems Engineering grundsätzlich Projektlaufzeiten. Gerade das systemische Erfassen des Produkts in seiner Umwelt verringert die Komplexität – und geringere Komplexität bedeutet eine schnellere Lösungserarbeitung. SE folgt dabei den Ansatz der Strukturierung einzelner Entwicklungsabläufe und weckt ein klares Verständnis für die Notwendigkeit eines jeden Entwicklungsschrittes. Maschinenbauprodukte werden in der Regel evolutionär weiter entwickelt. Neue Funktionalität muss schnell bereitgestellt werden, mehr noch, sie muss in das Produkt integrierbar sein. Somit ergeben sich zwei Schleifen: Zum einen eine langfristige Produktstrategie, die einmalige Investitionskosten amortisiert, und zum anderen kurzfristige Funktionserweiterungen, die schnell dem Kunden bereitgestellt werden müssen. Systems Engineering sorgt dabei für den Erhalt der Produktstrategie und bei einer gleichzeitig schnellen Bereitstellung von neuer Funktionalität. SE erlaubt die Parallelisierung von Entwicklungstätigkeiten und bringt die notwendigen Entwicklungsfähigkeiten frühzeitig zusammen. Dem System ist es egal, wie lange es entwickelt wird – oberste Priorität hat die vollständige Erfüllung des Kundenwunsches bei größtmöglicher Einhaltung der Kosten- und Zeitvorgaben. SE ermöglicht durch die Einbeziehung verschiedener Ingenieursdisziplinen eine integrative statt einer sequenziellen Entwicklung. Als Systems Engineer möchte ich vermeiden, dass die eine Hälfte des Teams sich verantwortlich für die Konstruktion fühlt, während die andere die Software übernimmt und niemand sich so für das Gesamtprojekt verantwortlich fühlt. Diese Einstellung besteht unabhängig von der letztendlichen Entwicklungszeit und steht im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Produktverständnis.

Bartl: Wo liegen Ihrer langjährigen Erfahrung nach die Hürden in KMUs für einen erfolgreichen Einsatz von Systems Engineering?

Hünnemeyer: Die Entscheider in den KMUs sitzen vor gut gefüllten Auftragsbüchern. Ihnen kommt nicht in den Sinn, dass sie noch längst nicht ihr gesamtes Potenzial nutzen. Dafür fehlt oftmals auch einfach die Zeit, denn der Druck, das Produkt rechtzeitig fertigzustellen, ist hoch. Außerdem gehen nach meiner Erfahrung die Entscheider davon aus, dass die Kommunikation in ihrer relativ kleinen Entwicklermannschaft ausreicht – leider liegen sie damit oft falsch. Systems Engineering sehen viele KMUs noch nicht als Chance, um Probleme zu lösen. Dabei trägt SE maßgeblich zur Effizienzsteigerung in der Entwicklung sowie zur Entlastung des Personals durch Vermeidung von Rettungsaktionen, die häufig bei schlecht geplanten Entwicklungsprojekten auftreten, bei und ermöglicht eine einfache Kontrolle des Entwicklungsfortschritts. Die Hürden bestehen also meiner Meinung nach vor allem im Kopf. Die Angst vor Veränderungen kommt mit dem zurückliegenden oder aktuellen Erfolg, der ja ‚beweist‘, dass alles im Unternehmen richtig läuft. Aber die Veränderung des Marktes und der Produkte durch die Digitalisierung schreitet stetig voran. SE bietet eine Chance, um sich auf diese zukünftigen Veränderungen einzustellen.

Bartl: Wie wurden Sie selbst zum Systems Engineer?

Hünnemeyer: Als Entwicklungsingenieur wollte ich zunächst Zusammenhänge einfach nur verstehen. Doch dann erkannte ich, dass immer die gleiche systematische und systemische Vorgehensweise zu schnellen und sicheren Projekterfolgen führt. So entwickelte ich mich zum technischen Projektleiter weiter. Das Top-down-Vorgehen half mir dabei, vor allem in komplexen Projekten: Ich verstand die Zusammenhänge im Lebenszyklus und damit die Anforderungen an das Produkt, sodass ich das Ziel nie aus den Augen verlor. Nach und nach lernte ich so Projekte zu skalieren und wandte die Methoden zunächst in der Luftfahrt und dann in kleineren Projekten an. So war ich beispielsweise an der Entwicklung von Windanlagen, Eisenbahnen, Testsystemen für die Luftfahrt- und Automobilindustrie und an der Erstellung eines Erfassungssystems für On-Board-GPS-gestützte Wegerfassung in Mautsystemen beteiligt. Als Vollblut-Ingenieur habe ich erfahren, wie viel Spaß es machen kann, mit einfachen Mitteln Entwicklungsprozesse zu verändern. Ingenieure freuen sich und investieren ihre Zeit und ihr Know-how, wenn sie unter besseren Bedingungen entwickeln können. Sie erfahren Systems Engineering als Erleichterung und nicht als Bürde, wie es beispielsweise oftmals im Projektmanagement der Fall ist. Ich hoffe sehr, dass auch die deutschen KMUs mehr und mehr auf Systems Engineering zurückgreifen und von den entsprechenden Methoden profitieren werden.

www.huennemeyer.eu

Eine aktuelle Studie zur unternehmensweiten Einführung von Systems Engineering ist in Vorbereitung. Hier finden Sie die letzte:
http://hier.pro/hJFZS

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Zur Person

Als Spezialist im Bereich Systems Engineering und Prozessberatung betreut Georg Hünnemeyer nationale sowie internationale Unternehmen aus den Bereichen Anlagenbau, Luftfahrt, Automobil- und Windindustrie. 2012 gründete er die Hünnemeyer Consulting GmbH, deren Interim Management den gesamten Lebenszyklus eines Produkts umfasst und unter anderem der langfristigen Kosten-, Zeit- und Prozessoptimierung dient. Unter seiner Mitwirkung als Co-Autor erschien 2017 das Systems Engineering Handbuch der Gesellschaft für Systems Engineering e.V..

info@huennemeyer.de


„Auch wenn ein Produkt
auf den ersten Blick einfach scheint, der entsprechende Einsatzkontext ist es häufig nicht. SE-Methoden helfen dabei, diesen Kontext
zu erfassen.“

Georg Hünnemeyer, Geschäftsführer Hünnemeyer Consulting GmbH
Bild: Hünnemeyer Consulting

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Als Spezialist im Bereich Systems Engineering und Prozessberatung betreut Georg Hünnemeyer nationale sowie internationale Unternehmen aus den Bereichen Anlagenbau, Luftfahrt, Automobil- und Windindustrie. 2012 gründete er die Hünnemeyer Consulting GmbH, deren Interim Management den gesamten Lebenszyklus eines Produkts umfasst und unter anderem der langfristigen Kosten-, Zeit- und Prozessoptimierung dient. Unter seiner Mitwirkung als Co-Autor erschien 2017 das Systems Engineering Handbuch der Gesellschaft für Systems Engineering e.V..

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