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Fehler und subjektive Eindrücke simulieren

Interview
Fehler und subjektive Eindrücke simulieren

Seit Beginn des Jahres 2016 ist der Dresdner Simualtionsanbieter ITI ein Teil der ESI Group, die Anbieter für virtuelles Engineering ist. Die Stärken der ESI Group sind bislang anwendungsbezogene Lösungen der 3D-Simulation, etwa FEM (u.a. für Crash-Simulation), CFD und Akustik sowie immersives Engineering (VR). Mit der Software SimulationX wird dieses Spektrum nun um die Systemsimulation erweitert. Wir haben uns mit drei Schlüsselfiguren bei der ESI ITI GmbH, Dr. Andreas Uhlig, Christian Kehrer und Andreas Abel, über künftige Herausforderungen der Simulationswelt unterhalten.

Das Interview führte Tobias Meyer, freier Mitarbeiter der KEM Konstruktion

KEM Konstruktion: Bisher kann die Systemsimulation ja – noch – nicht wirklich alles mit allem verknüpfen. Wie lange wird es noch dauern, bis wir wirklich komplette Systeme mit allen Aspekten simulieren können?
Andreas Abel: Die Frage ist eher: Will man das Universum simulieren? Man wird nie wirklich alles zu 100 Prozent korrekt abbilden können und möchte das auch nicht, da eine Simulation nicht so aufwändig wie möglich, sondern so aufwändig wie nötig zur Lösung der gestellten Aufgabe sein sollte.
Andreas Uhlig: Das ist unser Blick auf die Welt. Meist will ich ja nur das Verhalten eines Subsystems abfragen. Dann möchte ich dieses sehr detailliert modellieren. Von den anderen einfließenden Größen und umgebenden Teilsystemen benötige ich dann eher einfache Modelle. Ein weiterer wichtiger Punkt: Zu Beginn des Entwicklungsprozesses ist die Geometrie meines Produktes noch gar nicht bekannt, ich habe aber schon Fragen zu seiner Funktion. Um die Performance eines Fahrzeugs zu simulieren, reichen mir schon einige Parameter; die exakten Formen z.B. von Zahnrädern eines Getriebes brauche ich an dieser Stelle noch gar nicht.
KEM Konstruktion: Dennoch ist die Anforderung nach ganzheitlich simulierten Systemen aber da, oder?
Andreas Uhlig: Tendenz steigend, wobei die Definition von „ganzheitlich“ sehr unterschiedlich ausfallen kann. Wir arbeiten z.B. an einem Aerospace-Projekt, das in diese Richtung geht. Hier war von Anfang an klar, dass wir mit riesigen Modellen arbeiten werden. Man muss das System Flugzeug als komplexes Gesamtsystem betrachten, dessen Verhalten nicht mehr aus einer einfachen Analyse seiner Teilsysteme extrapoliert werden kann. Die Fragen, die simulativ beantwortet werden müssen, nehmen zu und werden komplexer. Das bildet einen Zielkonflikt mit den immer kürzer werdenden Entwicklungszyklen.
KEM Konstruktion: Birgt mehr Komplexität auch Risiken?
Christian Kehrer: Auf jeden Fall. Je komplexer das System, desto wahrscheinlicher sind Änderungen im Entwicklungsprozess. Je weiter fortgeschritten der Prozess schon ist, desto schwieriger ist es, hier noch ändernd eingreifen zu können. Das verlangt nach Frontloading, also dem frühestmöglichen Einsatz der Simulation.
KEM Konstruktion: Gibt es den Anspruch, Änderungen im CAD auch gleich auf die Simulation wirken zu lassen?
Andreas Abel: In gewisser Weise ja. In unserem Tool nutzen Anwender zum Beispiel den Modellgenerator, um die Geometrie aus einem CAD-System per Knopfdruck ins Simulationsprogramm zu importieren. Das ist praktisch, denn so können sie ganz einfach ganze Baugruppen einbinden. Oft steht aber gar nicht die Geometrie im Vordergrund, das ist eher für die Optik. Für die Dynamik des Systems interessieren die Massen- und Steifigkeitseigenschaften. Das Ganze geht auch live, wie wir es mit einem Kunden im Automobilbereich realisiert haben: Eine Änderung im CAD wird dort direkt zur Simulation durchgereicht. Im besagten Kundenbeispiel werden die Simulationsergebnisse zurück ins CAD gespielt, um dem Konstrukteur die Rückmeldung zu geben, wo beispielsweise ein Bauteil doch nicht so flexibel ist, wie er das geplant hatte.
Andreas Uhlig: Wie vorhin schon erwähnt, kenne ich am Anfang nur einige Parameter und Anforderungen des Produktes. Schon hier können Entwickler mit der Simulation beginnen, noch lange bevor der erste Strich auf der Entwurfsskizze getan ist. So kann ich sehr früh testen, ob sich alle Ziele überhaupt unter einen Hut bringen lassen. CAD und CAE sind dann erst die nächsten Schritte, die zeigen, ob das Design auch zur Funktion passt.
KEM Konstruktion: Ist Hardware-in-the-Loop auch Thema?
Christian Kehrer: Natürlich, angefangen von Model-in-the-Loop, Software-in-the-Loop und eben auch Hardware-in-the-Loop. Normalerweise läuft alles in parallelen Entwicklungslabors: Das Modell wird entwickelt und auf die Funktion hin simuliert, anschließend wird gleichzeitig Soft- und Hardware entwickelt und simuliert. Hier müssen beide Seiten zusammengebracht werden, was wir häufig machen, indem wir Schnittstellen für den Modellaustausch entwickeln. Alle unsere Modelle lassen sich aus der Modelica-Sprache in Code übersetzen – etwa nach FMI, S-Function oder einen zielplattformspezifischen Standard – und können so mit der jeweils anderen Komponente im Closed Loop gerechnet werden.
KEM Konstruktion: Geht das auch in die andere Richtung?
Andreas Uhlig: Natürlich, wenn ich etwa die Daten eines Prototyps auf dem Prüfstand mit in die Simulation einfließen lassen will. Im Automobilbau mit den hohen Stückzahlen ist das bereits Standard, auch im Maschinenbau bei kundenspezifischen Losgröße-1-Projekten steigt der Bedarf. Hierfür kommt die Virtuelle Inbetriebnahme ins Spiel: Wie verhält sich die beim Kunden erstmals komplett montierte Maschine in dieser Umgebung mit den dortigen Anschlusswerten? Momentan werden hier noch keine physikalischen Modelle eingesetzt, das soll aber kommen, um frühzeitig das Verhalten der kompletten Anlage zuverlässig bewerten zu können. Wir wollen hier SimulationX und IC.IDO, ein Virtual Reality-Tool das weltweit unter anderem erfolgreich beim Erarbeiten von Wartungsszenarien zum Einsatz kommt, kombinieren. Damit werden Anwender perspektivisch in einer realitätsnahen immersiven VR-Umgebung mit korrekten physikalischen Simulationsergebnissen arbeiten. Mit Hilfe eines derartigen Trainingssimulators können Mitarbeiter an großen Maschinen und sicherheitskritischen Anlagen, wie etwa Hochspannungsanlagen von Energieversorgern oder Kraftwerken, künftig realistisch aber risikofrei geschult werden. Ein weiteres Konzept ist der Human-in-the-Loop.
KEM Konstruktion: Was ist das genau?
Andreas Abel: Hier schließt der Mensch die Regelschleife. Beispielsweise wird so bei der Simulation eines Handschaltgetriebes die Haptik analysiert und die Frage beantwortet: Wie fühlt sich die Schaltung an? Anwender aktuieren am Schalthebel, bekommen ein Feedback und reagieren darauf. Alles zusammen definiert das Schaltgefühl. Der frühere Weg war der physikalische Prototyp, mit dem sich Änderungen sehr schwer justieren ließen, denn das Schaltgefühl kommt häufig über Dinge wie die Geometrie von Schiebemuffen oder ähnlichem zustande. Daher macht gerade hier ein solcher Schaltsimulator sehr viel Sinn. Über einen Schieberegler ändere ich dann die Bauteil-Parameter von Schiebemuffen und Co. in der Simulation und spüre sofort die Auswirkung der Konstruktionsänderung auf das Schaltgefühl.
KEM Konstruktion: Das klingt nach einer eher subjektiven Simulation…
Andreas Abel: Stimmt, hier ist häufig ein Ottonormalverbraucher sinnvoller, als ein Messtechniker, der die Kraft am Schalthebel messen kann, denn ein Schaltgefühl kann trotz guter Kraftwerte unpassend sein. Auch für das Management ist hier die Entscheidung immer sehr gut nachvollziehbar, weil nicht über abstrakte Zahlen, sondern über tatsächlich Erlebbares entschieden werden kann. Andererseits wird trotzdem objektiviert, da der Vorgang reproduzierbar ist. Bei einem Fahrversuch auf der Strecke kann ich zehn verschiedenen Personen nie exakt das gleiche System anbieten – in der Simulation schon.
KEM Konstruktion: Wird der Fahrversuch irgendwann ganz wegfallen?
Andreas Uhlig: Nein. Wir wollen den Fahrversuch nicht abschaffen. Das würde nicht funktionieren. Am Schluss muss immer der reale Versuch stehen. Simulation kann auf dem Weg aber eine Menge einsparen, da ich von vielleicht 20 Getriebeideen schon 15 in der Simulation aussortieren kann, ohne jemals einen physikalischen Prototypen gebaut zu haben.
KEM Konstruktion: Kommen die erwähnten subjektiven Simulationen auch in anderen Bereichen zum Einsatz?
Christian Kehrer: Ja, da passiert sehr viel. Der Komfortgedanke wird nun auch immer mehr in die Simulation während des Entwicklungsprozesses eingebunden, etwa in der Akustik. Das geht auch in unserer 0-D-Simulation ohne Geometrie. Hier werden etwa für Haushaltsgeräte wie Staubsauger oder Haartrockner die Geräusche des Systems simuliert und Parameter solange verändert, bis ein potentieller Verbraucher das Geräusch nicht mehr als störend empfindet – womöglich sogar als angenehm!

Hinweis

Info

Dieses Interview veröffentlichen wir in zwei Teilen: Wer mehr über die Alleinstellungsmerkmale des Unternehmens ESI ITI oder die Simulationsplattform SimulationX erfahren möchte, findet in der KEM Systems Engineering die entsprechende Ergänzung.

Zu den Personen

Info

Andreas Uhlig studierte Mathematik und promovierte an der TU Dresden. Er gehörte zu der Gründern der ITI GmbH, und war in dem Simulationssoftware-Unternehmen zunächst für F&E verantwortlich. Ab 2000 war er dort Geschäftsführer und hat diese Position für ESI ITI GmbH inne, die seit 2016 zur ESI Group gehört.
Christian Kehrer ist seit 2014 als Vertriebsleiter DACH bei ESI ITI GmbH für Kunden aus dem deutschsprachigen Raum verantwortlich. Er studierte Maschinenbau in der Fachrichtung Kraftfahrzeugtechnik an der TU Dresden. Er war von 2006 bis 2009 Berechnungsingenieur bei BMW, anschließend startete er als Key Account Manager im Bereich Automotive und als Ansprechpartner für neue Grundlagenthemen bei ITI GmbH.
Andreas Abel leitet seit 2015 die Abteilung Mechanik- und Mechatronik im Bereich Engineering der ESI ITI GmbH. Nach einem Studium der Elektrotechnik und einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden kam er 2002 zu ITI. Zuerst als Applikationsingenieur und später als Chefingenieur und Abteilungsleiter arbeitet er schwerpunktmäßig zu den Themen Antriebstechnik, Echtzeitsimulation, Systementwurf und Zuverlässigkeit.
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