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Ulrich Sendlers Buch: Das Gespinst der Digitalisierung

Digitalisierung
Ulrich Sendlers Buch: Das Gespinst der Digitalisierung

Ulrich Sendlers Buch: Das Gespinst der Digitalisierung
Die Digitalisierung sei kein Naturereignis, sondern Menschenwerk, das auch von Menschen geregelt werden muss und sich nicht naturwüchsig richtig entwickelt, so Ulrich Sendler Bild: vege/fotolia.com
Die Digitalisierung und digitale Vernetzung machen die Welt komplexer und vielseitiger, als es die kühnste Science-Fiction vorausahnen konnte. Diese Disruption in den Zusammenhang der Menschheitsgeschichte zu stellen und ihren Kern zu begreifen, ist die Voraussetzung dafür, die digitale Zukunft menschlich zu gestalten. Die Menschen brauchen eine neue Weltanschauung, weil die Welt vor einem so grundsätzlichen Umbruch steht, dass alle bisherigen Gewissheiten nicht mehr gelten.

Ulrich Sendler, freier Technologieanalyst, Fachjournalist und Publizist, München

Inhaltsverzeichnis

1. Freiheit des Individuums und politische Absicherung
2. Beschaffenheit der digitalen Gesellschaft
3. Fundament, auf dem sich die Gesellscahft neue definiert

 

Der Umbruch geht weit über das hinaus, was sofort damit verbunden wird: Smartphones und Internet, Suchmaschinen und E-Commerce, Apps, Cloud und Big Data Analytics. Der Umbruch erfasst mit dem 2011 durch das Internetprotokoll Version 6 (IPv6) definierten Adressraum jedes Atom dieser Erde. Wie sollten Wirtschafts- und Rechtssystem, Staatsordnung und Bildungssystem – alles passend zur analogen Industriegesellschaft entstanden und perfektioniert – auch nur vom Ansatz her zur digitalen Gesellschaft passen?

Obendrein haben wir keine Zeit zu verlieren. Von Jahrtausenden hat sich die pro Umwälzung benötigte Zeitspanne über Jahrhunderte mittlerweile auf Jahrzehnte verkürzt. Der erste Umbruch der Menschheit, mit dem sie sich vom Jagen und Sammeln dem Ackerbau und der Viehzucht zuwandte, begann rund 10.000 Jahre vor unserer Zeit und dauerte rund um den Erdball fast bis zu Christi Geburt. Dann kamen Lesen, Schreiben und wissenschaftliches Arbeiten. Waffen, Transportsysteme und erste mechanische Maschinen, Kanalsysteme und Viadukte wurden entwickelt und gebaut, aber es dauerte nochmals mehr als zwei Jahrtausende, bis mit der Dampfmaschine der nächste große Umbruch auf der Tagesordnung stand: die industrielle Revolution. Von ihr bis zur heutigen Digitalisierung dauerte es nur 250 Jahre.

Freiheit des Individuums und politische Absicherung

Ebenfalls vor gut 2000 Jahren übrigens waren es die Griechen, die uns erstmals einen Vorgeschmack auf das brachten, was die Freiheit des Individuums und ihre politische Absicherung gegen den offenbar auch stets drohenden menschlichen Machthunger bedeutet. Die griechischen Stadtstaaten beruhten auf der Selbstorganisation freier Bürger. Das Wahlrecht hatten sie zur Vermeidung von Korruption und Wahlbetrug durch ein Losverfahren ersetzt. Es war ein sehr mutiger und ermutigender, aber eben auch ein sehr früher Schritt, der noch nicht zu den gesamten Lebensbedingungen der Menschheit passte. Vielleicht waren die Sklaven und die Einschränkung der Freiheiten auf die männlichen Erwachsenen damals die Voraussetzungen für das kurzfristig erfolgreiche Wagnis, aber erst mussten die Menschen noch durch zwei Jahrtausende Leibeigenschaft, Großgrundbesitz, Adelsherrschaft, Diktaturen und immer wieder und weiter Sklaverei, bevor sie einen neuen Anlauf machten. Exakt mir der industriellen Revolution begannen die ersten drei Industriestaaten England, Frankreich und die USA in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der modernen Demokratie, die sich bis zu Beginn dieses Jahrzehnts in Sprüngen rund um den Erdball ausbreitete und 2012 mehr als 60% aller Staaten erfasst hatte.

Seither geht es wieder rückwärts, und jene Parteien finden immer stärkeren Zulauf, die zurückwollen. Weg von der Globalisierung zurück zur Nation; weg von der individuellen Freiheit, von Gewaltenteilung und Rechtsstaat, zurück zu autoritären Machtstrukturen, Autokraten, Herrschern. Dass dies vermutlich nur Ausdruck der Angst eines großen Teils der Menschheit vor der gefühlt drohenden Zukunft ist und Ausdruck ihrer Wut über die fehlenden Perspektiven und Konzepte der etablierten politischen Eliten, zeigte der Sieg Macrons über Le Pen nach nur einem Jahr Bewegung von „La Republique en Marche!“. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung erreichte der Front National mit acht Abgeordneten von 577 nicht einmal Fraktionsstatus, Macrons Bewegung dagegen 308. In dem Moment, in dem eine Perspektive sichtbar wird und eine charismatische Persönlichkeit sich offen zu großen Veränderungen bekennt und dafür mehrheitsfähige Konzepte entwickelt, scheidet der „Populismus“ dahin, als hätte es ihn nie gegeben. Noch im März 2017 rechnete alle Welt mit einer möglichen Präsidentin Le Pen.

Beschaffenheit der digitalen Gesellschaft

Was derzeit fehlt, ist eine Vorstellung davon, wie die digitale Gesellschaft beschaffen sein soll. Aber um solch eine Vorstellung zu finden, müssen wir erst einmal eine Reihe von Mauern in unseren Köpfen einreißen. Digitale Vernetzung muss keineswegs die Gestalt haben, die ihr von den Internetgiganten gegeben wurde. Es ist kein Naturgesetz, dass ein Suchbefehl zu einer Werbeeinnahme beim Suchmaschinenbetreiber führt. Es ist kein Naturgesetz, dass Konzerne über unsere Daten bestimmen, als gehörten sie ihnen. Es ist vielmehr nur deshalb so, wie es derzeit ist, weil es weder ein Naturgesetz noch ein staatliches Gesetz gibt, das das Eigentumsrecht an Daten definiert. Nirgends, in keinem Staat der Welt. Aber so wie die Industriegesellschaft eine Eigentumsordnung brauchte, die das Eigentum an Produkten und an Produktionsmitteln schützte, so braucht die digitale Gesellschaft eine Eigentumsordnung, die eindeutig regelt, wem welche Daten gehören und wie sie vor missbräuchlicher Verwendung und Verwertung geschützt werden. Die Digitalisierung ist kein Naturereignis, sondern Menschenwerk, das auch von Menschen geregelt werden muss und sich nicht naturwüchsig richtig entwickelt.

Wenn die repräsentative Demokratie im Rahmen des Nationalstaats nicht mehr mithalten kann mit dem Tempo der technologischen Revolution, dann stimmen vielleicht die Art der Demokratie und ihr staatlicher Rahmen nicht mehr. Vielleicht lagen die Griechen mit der Beschränkung des Staats auf die Stadt richtiger? Und könnte uns vielleicht gerade die digitale Vernetzung in der künftigen Gesellschaftsordnung helfen, eine direktere, effektivere demokratische Teilhabe aller an ihrer Gestaltung zu realisieren?

Fundament, auf dem sich die Gesellscahft neue definiert

Es geht nicht mehr um die Anzahl der Kita-Plätze. Es geht nicht um die Abschiebung von Menschen, die aus Ländern zu uns fliehen, wo es noch viel beängstigender zugeht als bei uns. Es geht nicht darum, welcher der Politiker, die sich über Jahrzehnte hochgedient haben, welchen Listenplatz für die Landtagswahl erhält. Es geht um das Fundament, auf dem die Gesellschaft sich neu definiert. Und so gespenstisch die Digitalisierung anmutet, so wenig das Gespinst der digitalen Vernetzung bisher von seinem Inhalt preisgibt, so wenig sind digitale Vernetzung und Künstliche Intelligenz Teufelswerk. Nicht die Maschine wird den Menschen überflüssig machen. Der Mensch muss die Maschinen so in den Griff bekommen, dass sie ihm nützen. eve

www.ulrichsendler.de

Urlich Sendler nimmt im Rahmen der Konferenz “Digitaler Kapitalismus“ der Fr.-Ebert-Stiftung bei einer Podiumsdiskussion im Nov. teil:

hier.pro/Y5AeS


Ulrich Sendler, Freier Fachjournalist, München
Bild: Sendler

„Was derzeit fehlt, ist eine Vorstellung davon, wie die digitale Gesellschaft beschaffen sein soll.“

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