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Prof. Hanno Weber, Prorektor HS Pforzheim, zum Systems Engineering

Praktiker zum Systems Engineering
„Auch das Ganze kann an einem Detailproblem scheitern“

„Auch das Ganze kann an einem Detailproblem scheitern“
„Grundsätzlich sollte ein Systems Engineer Interesse am Ganzen haben – verbunden mit dem Bewusstsein, dass auch das Ganze an einem Detailproblem scheitern kann!“, sagt Prof. Hanno Weber, Prorektor, Hochschule Pforzheim Bild: Weber
Im Rahmen der Rubrik ‚Aus der Praxis des Systems Engineerings‘ gab uns Prof. Hanno Weber Auskunft zu seinen Erfahrungen. Bereits in seiner Promotion beschäftigte ihn die modellbasierte Produktentwicklung, heute verantwortet er die Ingenieur-Ausbildung an der Hochschule Pforzheim.

Interview: Michael Corban, Chefredakteur KEM Konstruktion

Inhaltsverzeichnis

1. Anwendung des Systems Engineering
2. Definition des Systems Engineering
3. Schwierigkeiten beim Systems Engineering
4. Ausbildung zum Systems Engineer
5. Chancen für das Systems Engineering
6. Zur Person

Anwendung des Systems Engineering

KEM Konstruktion: Prof. Weber, können Sie uns basierend auf Ihren Erfahrungen ein Beispiel für die gelungene Anwendung des Systems Engineerings nennen?

Prof. Hanno Weber: Ein gutes Beispiel ist die Einführung einer Leitstandsteuerung im Druckmaschinenbereich. Das waren auch früher schon riesige Maschinen, durch die hindurch eine Zentralwelle gelegt war, von der alle anderen Elemente ihre Drehzahl über Getriebe abgriffen – klassischer Maschinenbau. Moderne Druckmaschinen verfügen dagegen heute über geregelte Einzelantriebe, die über Lichtwellenleiter verbunden synchronisiert werden. Das ermöglicht eine enorme Leistungssteigerung, ganz andere Geschwindigkeiten.

KEM Konstruktion: Können Sie das kurz erläutern?

Weber: Durch die Benetzung mit Farbe dehnt sich das Papier – es wird also beim Lauf durch die Maschine länger. Mit geregelten Einzelantrieben ist das kein Problem, weil man etwa die letzte Walze einfach vier bis fünf Promille schneller drehen lassen kann. Vergleichbares konnte man mit den Getrieben gar nicht ausgleichen, was natürlich die erreichbare Druckleistung begrenzte. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Wird frühmorgens beispielsweise die Zeitung gedruckt, sollen nun nachmittags Prospekte folgen – quasi auf Knopfdruck. Auch dann, wenn sich das Format ändert, ein anderer Falzapparat benötigt wird oder ein Trockner dazukommt. Früher ging das auch, doch musste dazu stundenlang geschraubt werden, der Umrüstaufwand war immens. Soll das alles auf Knopfdruck passieren, stoßen die Vorgehensweisen aus dem klassischen Maschinenbau an ihre Grenzen. Gefragt ist dann die interdisziplinäre Zusammenarbeit bezüglich Mechanik und Steuerungstechnik – wobei entscheidend ist, dass der Druckprozess verstanden wird, entsprechende Spezialisten sind einzubeziehen. Das kann in der Summe nur das Systems Engineering leisten.

Definition des Systems Engineering

KEM Konstruktion: Wollen Sie kurz das Systems Engineering einmal aus Ihrer Sicht definieren?

Weber: Es handelt sich um einen interdisziplinären Ansatz – bestehend aus Methoden zur Entwicklung komplexer Systeme und aus Methoden für das Management dieser Entwicklung. Ein Schlüsselbegriff ist Integration – zu verstehen in zweierlei Hinsicht: Einerseits geht es darum, ein Produkt in den späteren Nutzungskontext zu integrieren, andererseits um das Zusammenfügen einzelner Teile zu einem funktionsfähigen Ganzen. Entscheidend ist, dass sich im Vorfeld nur dann ein Lösungsraum erschließen lässt, wenn es gelingt, die Gesamtfunktion – in der der Kunde denkt – zu zerlegen. Dem analytischen, dem ‚zerlegenden‘ Weg gemäß V-Modell muss dann aber die Integration folgen – und diese Synthese steht beim Systems Engineering im Vordergrund. Man könnte auch sagen: Es gibt genügend Wissenschaften, die analysieren können, aber noch zu wenig Wissen über die Synthese. Insbesondere dann, wenn zahlreiche Zulieferer – weltweit verteilt – mitentwickeln, gewinnt diese Aufgabe enorm an Komplexität und Dynamik. Da kann man nicht einfach nach VDI-Richtlinie 2221 weiterkonstruieren.

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Schwierigkeiten beim Systems Engineering

KEM Konstruktion: Welche Schwierigkeiten tauchen denn typischerweise beim Systems Engineering auf?

Weber: So bald eingefahrene Strukturen und Prozesse aufgebrochen werden, wird es schwierig. Ein Beispiel sind die vielen Dinge, die früher nicht kommuniziert wurden, nun aber zu dokumentieren sind – und das ist sicherlich nicht die Lieblingsbeschäftigung von Konstrukteuren. Allerdings führt daran kein Weg vorbei, wir brauchen heute eine verlässliche Beschreibung von Schnittstellen! Und wir brauchen darauf aufsetzend ein Konfigurations-Management. Letztlich sind das ja die Spezifikationen für all diejenigen, die zuarbeiten, sei es in einer anderen Abteilung oder anderen Unternehmen. Die Schnittstellenbeschreibung ist an dieser Stelle Vertragsgrundlage – ändern wir die, ohne dass unsere Partner das erfahren, führt dies zu großen Problemen. Denken Sie nur an die Frage, wer die Kosten übernimmt, wenn vier Wochen in die falsche Richtung entwickelt wurde.

KEM Konstruktion: Deswegen ist die Dokumentation so wichtig…

Weber: …und im Systems Engineering Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung. Werden eingefahrene Prozesse hier nicht angepasst, wird es ‚schwergängig‘. Hinzu kommt: Fährt man wirklich einen systemorientierten Ansatz, verlängert sich die Anfangsphase – was für die Konstrukteure schwierig ist, da sie bereits ‚vibrieren‘ und endlich loslegen wollen. Doch genau an dieser Stelle ist es enorm wichtig, zunächst zu klären, ob man das richtige Konzept verfolgt. Dazu sind die Interessen aller Beteiligten zu klären – die Stakeholder-Analyse – und anschließend die Anforderungen sauber zu dokumentieren und zu verfolgen. Etwas Ähnliches mache ich selbst auch mit meinem Prüfungssystem an der Hochschule. Auch das ist modular aufgebaut und ich kann die Konfiguration kontrollieren.

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Ausbildung zum Systems Engineer

KEM Konstruktion: Wie bildet denn die Hochschule Pforzheim Systems Engineers aus und was ändert sich für Ingenieure?

Weber: Nun – etwas flapsig formuliert, könnte man sagen, dass Konstrukteure früher Nerds waren, die sich mit Luftspalt und Toleranzen vergnügten. Darin waren sie auch sehr gut, bis zu dem Punkt, an dem ihre Lösung nicht zielführend war. Heute erwarten wir deshalb zusätzlich zu der Begeisterung für die jeweilige Disziplin, dass Ingenieure hochkommunikativ sind und zumindest der Projektleitung ihre Leistung auch ‚verkaufen‘ können. Das ist natürlich ein sehr umfangreiches Kompetenzbündel – detailverliebte Konstrukteure tun sich damit schwer, weil sie das schlicht nervtötend finden. An der Hochschule Pforzheim beginnen wir deswegen bereits in der Bachelor-Ausbildung damit, auf die Sichtweise des Systems Engineerings hinzuarbeiten. Ein entscheidender Baustein unserer Ausbildung sind praktische Projektarbeiten in jedem Semester, gefolgt von einer interdisziplinären Projektarbeit im sechsten Semester. Aufgabe ist hier, mit Kommilitonen aus anderen Studiengängen und sogar anderen Fakultäten gemeinsam eine Lösung zu entwickeln. Im Master-Studium zum Thema Produktentwicklung verbreitern wir diesen Ansatz noch und gehen zudem auf die klassischen Themen wie Anforderungs-Management, Funktions-Modellierung, logische Architektur, physische Architektur oder Integration ein.

KEM Konstruktion: Was ist denn die Voraussetzung, um erfolgreich ein Systems Engineer zu werden?

Weber: Man sollte auf alle Fälle eine technische Grundausbildung mitbringen – sei es Maschinenbau, Elektrotechnik oder Informatik. Hat man hier den fachlichen Tiefgang einmal gezeigt, fördert dies die Akzeptanz im Team, selbst wenn man als Maschinenbauer dann beispielsweise nicht die letzte Programmiersprache flüssig beherrscht. Grundsätzlich sollte ein Systems Engineer zudem Interesse am Ganzen haben – verbunden mit dem Bewusstsein, dass auch das Ganze an einem Detailproblem scheitern kann! Im Gegensatz zum reinen Projektmanagement haben Systems Engineers den Anspruch, sich mit Problemen auseinanderzusetzen und eine technische Lösung zu finden – eben Technical Leadership!

Chancen für das Systems Engineering

KEM Konstruktion: Abschließend noch die Frage mit Blick auf die Zukunft: Welche Bedeutung kommt dem Systems Engineering in den kommenden Jahren zu?

Weber: Das Systems Engineering ist im Aufblühen! Das Bewusstsein hierfür entsteht inzwischen auch außerhalb der Luft- und Raumfahrt, gerade auch in den klassischen zivilen Industriefeldern wie Automobilbau, Medizintechnik, Anlagenbau, Werkzeugmaschinenbau und rund um die Agrartechnik. Nicht zuletzt zeigt das die Mitgliederkurve der GfSE mit ihrem klassischen, exponentiellen Wachstum. Ich denke, die Systems-Engineering-Kompetenz wird in Zukunft noch deutlich an Relevanz gewinnen. Produkte und Dienstleistungen werden fachlich vielschichtiger, mehr Einzeldisziplinen gefordert sein – hier ist ein interdisziplinärer Ansatz unabdingbar. Zumal die Produktentwicklung ökonomisch riskanter wird und Technologien viel schneller durch neue ersetzt werden. Zudem rücken auch Folgen für die Gesellschaft in den Fokus – eine Aufgabe, die wir unseren Studenten mitgeben. Man kann heute nicht mehr beliebige Verbrennungsmaschinen konzipieren, ohne sich über den CO2-Ausstoß Gedanken zu machen. Gleiches gilt für den Einsatz von Materialien wie Seltenen Erden. Unternehmen, die das ausblenden, werden ein Problem bekommen.


Zur Person

Hanno Weber, geboren 1965 in Lahr/Schwarzwald, studierte von 1987 bis 1993 Maschinenbau an der Technischen Universität Berlin und der University of Michigan, USA. Nach seiner Promotion über Entwurfsmethoden für komplexe Systeme, insbesondere die modellbasierte Produktentwicklung, arbeitete er für eine Düsseldorfer Unternehmensberatung. Seit 2001 lehrt er an der Hochschule Pforzheim unter anderem den ‚Entwurf komplexer Systeme‘ sowie das Produktdatenmanagement. Seit 2011 ist er dort als Prorektor für das Ressort Studium und Lehre zuständig.

Tel. +49 7231/28-6001
hanno.weber@hs-pforzheim.de

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