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ISO/IEC 15288 und ISO/IEC 29110 – Prozesse für das Systems Engineering

Begriffe des Systems Engineerings – Teil 2
ISO/IEC 15288 und ISO/IEC 29110 – Prozesse für das Systems Engineering

In Teil 2 unserer Rubrik SE-Glossar widmen wir uns dem Systems Engineering aus Sicht des Produktlebenszyklus und der relevanten Prozesse. Im Mittelpunkt stehen dabei die ISO/IEC 15288 und die ISO/IEC 29110, die als ‚kleine Schwester‘ der ISO/IEC 15288 besonders für kleine und mittlere Unternehmen interessant ist.

Christian Tschirner ist Bereichsleiter Kommunikation & Veranstaltungen der GfSE, Sascha Ackva ist Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE)

Seit einiger Zeit existieren starke Aktivitäten, die Landschaft der Normen, Standards und Richtlinien im Systems Engineering zu aktualisieren. Diese sind getrieben unter anderem durch das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN), die ISO, das IEEE – aber natürlich auch stark durch das International Council on Systems Engineering (INCOSE). Dabei rücken immer stärker die Bedürfnisse von Unternehmen außerhalb der klassischen SE-Anwendungsbereiche in den Mittelpunkt.

ISO/IEC 15288: Systems and software engineering – System life cycle processes

Die ISO/IEC 15288: Systems and software engineering – System life cycle processes beschreibt die Prozesse über den Lebenszyklus eines technischen Systems. Es werden vier Prozess-Gruppen inklusive entsprechender Terminologie definiert. Für jede Gruppe werden die für Systems Engineers relevanten Prozesse detailliert. Diese werden unabhängig von der Komplexität eines Systems, der Produktstrukturstufe oder Projektphase angewendet; einzig der erbrachte Aufwand für die Prozesse ändert sich.

  • Produktbezogene/ Technische Prozesse: Hier finden sich alle technischen Aktivitäten des Lebenszyklus. Durch deren Anwendung entsteht das Produkt oder der Service. Bestandteile sind beispielsweise Geschäftsfall- und Missionsanalyse, Kundenwunsch und Anforderungsdefinition, Systemanforderungsdefinition, Systemanalyse, Architekturdefinition, Designentwurf sowie Aktivitäten bezüglich Implementierung, Integration, Verifikation, Transition, Validierung, Operation, Wartung und Entsorgung.
  • Projekt-/Technische Management-Prozesse: Diese adressieren das technische Management von Entwicklungsvorhaben und ergänzen das Projektmanagement. Die entsprechenden Aktivitäten beziehen sich also auf die Planung, Projektbeurteilung und -steuerung, Entscheidungs-, Risiko- Konfigurations- und Informationsmanagement sowie die Qualitätssicherung. Weiter werden technische Maßnahmen zur Kompensation von Defiziten identifiziert und durchgeführt, beispielsweise hinsichtlich Zeit, Kosten und Qualität der Ergebnisse.
  • Vertrags-/Vereinbarungs-Prozesse: In diesem Zusammenhang unterscheidet man den Acquisition Process und den Supply Process. Die damit verbundenen Aktivitäten beziehen sich auf die Vereinbarungen zwischen Kunde und Lieferant des Systems (beziehungsweise der Systemkomponenten) oder der Dienstleistung.
  • Organizational Project-Enabling Prozesse: Ziel ist die Bereitstellung der Ressourcen, die zur Erfüllung der Anforderungen der Projekt-Stakeholder notwendig sind. Das sind etwa Qualitätsrichtlinien, Management-Aktivitäten hinsichtlich Lebenszyklus, Infrastruktur, Produktportfolio, Qualitätsmanagement und Wissensmanagement. Damit sind diese Prozesse der Organisation und nicht einzelnen Projekten zugeordnet.

Das Besondere: Die ISO/IEC 15288 definiert einen Tailoring Process, der die Anpassung der Prozesse an die jeweilige Projektsituation ermöglicht – was jedoch in keinem Fall nur ein ‚Weglassen‘ bedeutet, sondern eine Anpassung in Umfang und der formalen Stringenz. Dazu werden zunächst Einflussfaktoren auf das Projekt identifiziert (Komplexität, Risikofaktoren, …), dann erfolgt die Auswahl der je nach Entwicklungsprozess betroffenen Prozesse. Hierfür werden die erwarteten Prozess-Ergebnisse, Aktivitäten und Aufgaben identifiziert, die durchgeführt werden müssen. Unter Berücksichtigung der Projektaspekte wird dann entschieden

  • welche Aspekte besondere Berücksichtigung finden und
  • welche Prozesse in geringerem Umfang beziehungsweise weniger formal durchgeführt werden.

ISO/IEC 29110: Systems and Software Life Cycle Profiles and Guidelines for Very Small Entities

Das Thema Systems Engineering nimmt inzwischen auch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) immer mehr an Fahrt auf. Die Gründe sind vielfältig, häufig spielen die Veränderungen in den Wertschöpfungsstrukturen der ‚großen Unternehmen‘ eine Rolle: Immer häufiger fokussieren diese auf eine Integrationsstrategie, das heißt sie verlagern ihre Systementwicklungsaktivitäten zu kleineren Unternehmen. Dadurch kommt den wohlstrukturierten Prozessen des Systems Engineerings eine besondere Rolle zu, da sie in besonderer Weise im Zusammenspiel mit Partnern ihre Wirkung entfalten. Gleichzeitig sind aber viele Ansätze zu umfangreich oder unflexibel, um die Anforderungen kleinerer Unternehmen zu treffen. Deshalb werden sie auch nur ungern von KMU eingesetzt.

Hier setzt die ISO/IEC 29110 ‚Systems and Software Life Cycle Profiles and Guidelines for Very Small Entities (VSEs)‘ an – ein Ansatz, der durch INCOSE mitgestaltet wird. Nachdem zunächst das Thema Softwareentwicklung adressiert wurde, liegt jetzt ein Schwerpunkt auf der Entwicklung der ‚Deployment Packages‘ für den Bereich Systems Engineering. Die wesentlichen Ziele dabei waren:

  • Auf Basis der ‚großen Schwester‘ ISO/IEC 15288 soll ein SE-Ansatz entwickelt werden, der bei Organisationen, Abteilungen oder Projekten bis etwa 25 Projektteilnehmern eine besondere Anwendbarkeit findet.
  • ‚Generische Profile‘ (siehe Kasten) sollen die Einführung erleichtern. Sie erlauben eine schrittweise Einführung in die SE-Prozesse, wobei die Auswahl des geeigneten Profils von der Fähigkeit der Organisation, der Größe und der Komplexität des Projekts bestimmt wird.

Jedes generische Profil wird durch eine Reihe von Deployment Packages beschrieben (siehe Tabelle). Diese bieten eine im Umfang angepasste Beschreibung der Prozesse, Aktivitäten, Aufgaben, Arbeitsschritte, Rollen und zu erarbeitenden Produkte. Weiterhin werden Vorlagen und Beispiele zur Verfügung gestellt.

Insgesamt besteht die ISO/IEC 29110 aus 5 Teilen (Parts, siehe Tabelle), wobei nur der Teil 4 als ‚Standard‘ eingestuft ist. Die Deployment Packages – insgesamt etwa 40 Einzeldokumente – sind dem Teil 5 der ISO/IEC 29110 ‚Management und Engineering Anleitung‘ zugeordnet. Dieser Teil wird aktuell durch das Deutsche Institut für Normung (DIN) unter Mitarbeit von GfSE-Mitgliedern ins Deutsche übersetzt – ab Herbst 2015 ist mit einer ersten Fassung zur rechnen.

www.gfse.de


Zu dieser Rubrik

‚In erster Linie geht es um Kommunikation‘ – das war der Titel der Titelstory der ersten Ausgabe der develop3 systems engineering, heute KEM Systems Engineering. Tatsächlich wird die Bedeutung von Kommunikation in Projekten häufig unterschätzt. Projekte sind heute höchst interdisziplinär und im Regelfall über Zeitzonen, Kulturkreise und Sprachräume verteilt. Die präzise und konsistente Verwendung von Begriffen wird somit zur Schlüsselkompetenz. Eine der ersten Aufgaben des Systems Engineers im Projekt ist deshalb die Schaffung eines Vokabulars, das eine eindeutige Kommunikation fördert. Zur Unterstützung dieser Aufgabe veröffentlichen wir in enger Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE) e.V. in jeder Ausgabe der KEM Systems Engineering Definitionen zu relevanten Begriffen des Systems Engineerings; Ausgangspunkt hierfür ist die deutsche Übersetzung V. 3.2.2 des Handbuchs Systems Engineering des International Council on Systems Engineering (INCOSE).

kem.redaktion@konradin.de


Info

Generische Profile der ISO/IEC 29110

  • Entry: Das Profil ist geeignet für Unternehmen, die sich gerade erst mit SE beschäftigen oder Projekte mit weniger als sechs Personenmonaten.
  • Basic: Hier geht es um Anwendungen mit keinem besonderen Risiko.
  • Intermediate: Dieses Profil kommt zur Anwendung in Projekten, in denen mehrere Disziplinen koordiniert werden müssen.
  • Advanced: Hier geht es unter anderem um eigenständige, von einem Auftraggeber unabhängige Projekte mit stark unterschiedlichen Komplexitätsgraden.
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