Startseite » Steuerungstechnik »

Siemens-CEO Dr. Jan Mrosik zur Digitalen Fabrik - KEM Konstruktion

Digitalisierung
Siemens-CEO Dr. Jan Mrosik zur Digitalen Fabrik

Die Digitalisierung bestimmt derzeit das Handeln der Wirtschaft. Das Digital Enterprise bietet viele Chancen, birgt aber auch Risiken. Im Gespräch mit KEM Konstruktion erläutert Dr. Jan Mrosik, CEO der Division Digital Factory der Siemens AG, die entsprechende Siemens-Strategie in diesem Bereich. Im Mittelpunkt stehen dabei die Ausprägungen des Digital Enterprise in der diskreten Fertigung sowie Themen wie industrielle Kommunikation, IT-Sicherheit und industrielle Services.

 

Interview: Michael Corban und Johannes Gillar, KEM Konstruktion

KEM Konstruktion: Siemens gehört zu den Vorreitern in Sachen Digital Enterprise. Welche Strategie verfolgen Sie auf dem Weg zur Digitalisierung der Industrie?
Mrosik: Siemens verfolgt die grundsätzliche Strategie, die Themen Digitalisierung, Automatisierung und Elektrifizierung voranzutreiben. Die drei genannten Themen bestimmen unser Portfolio sowie unsere strategische Ausrichtung. In allen drei Feldern sind wir branchenübergreifend tätig und bedienen von Energiemanagement und Windkraft über Energieerzeugung und Medizintechnik bis zu Gebäudetechnik und Mobilität viele Segmente. Der Bereich Digital Factory ist in die fünf Sparten Product Lifecycle Management, Factory Automation, Motion Control, Control Products sowie Customer Services unterteilt. Mit dieser Struktur und unserem integrierten Produktportfolio aus diesen Business Units wollen wir den Weg zum Digital Enterprise in der Fertigungsindustrie bereiten.
KEM Konstruktion: Welche Anforderungen haben Ihre Kunden aus der fertigenden Industrie im Zusammenhang mit der digitalen Transformation?
Mrosik: Die Digitalisierung verändert alles. Dadurch verändern sich letztendlich auch die Geschäftsmodelle und dementsprechend die Bedarfe. Die wichtigsten Kundenanforderungen sind daher Geschwindigkeit, Flexibilität, Qualität, Effizienz und schließlich Security:
  • Die Forderung nach einer höheren Geschwindigkeit liegt darin begründet, dass Unternehmen ihre Produkte immer schneller in den Markt bringen müssen. Nehmen Sie beispielsweise die Automobilindustrie: die Modellzyklen werden immer kürzer, während gleichzeitig Produktvielfalt und -palette zunehmen. Dementsprechend haben sie heute viele verschiedene Fahrzeugtypen in allen möglichen Varianten im Markt und je schneller ein Hersteller unterwegs ist, desto höher ist sein Marktanteil und desto besser ist er positioniert. Geschwindigkeit trägt also am Ende zum Wachstum bei.
  • Das zweite Thema ist Flexibilität. Es gibt immer mehr Produkte, die genau einmal gefertigt werden. Wir sprechen da von der Losgröße Eins. Auch hier kann man beispielhaft den Automotive-Bereich nennen. Ein modernes Oberklasse-Fahrzeug wird heute in mehr als einer Million Konfigurationen angeboten. Das heißt, Kunden haben unendlich viele Möglichkeiten, dieses Fahrzeug in den entsprechenden Tools zu konfigurieren und zu bestellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass genau der gleiche Wagen noch ein zweites Mal innerhalb kurzer Zeit gebaut wird, ist sehr gering.
  • Das Thema Losgröße Eins führt dann zwingend zur dritten wichtigen Kundenanforderung, nämlich der Qualität. Geschwindigkeit und Flexibilität dürfen natürlich nicht auf Kosten der Qualität gehen. Auch wenn Kunden die Autos in einer Million unterschiedlicher Konfigurationen bestellen können, darf keine von diesen Varianten Qualitätsmängel aufweisen. Es darf nichts knarzen, klappern oder quietschen.
  • Um die ersten drei Punkte umsetzen zu können, müssen Unternehmen viertens ihre Effizienz steigern, damit sie zum Beispiel Assets, Bestände oder Fertigungsanlagen optimal nutzen können, gleichzeitig aber auch sicherstellen, dass der Energieverbrauch und die Kosten gering gehalten werden.
  • Und zum Schluss kommen wir noch zum Thema Industrial Security. Sicherheit ist eine der wesentlichsten Anforderungen. Die Digitalisierung führt dazu, dass Fertigungsanlagen verwundbarer werden. Umso mehr brauchen die Unternehmen angemessene Sicherheitsmaßnahmen. Mit „Defense in Depth“ bietet Siemens ein vielschichtiges Konzept, das Anlagen sowohl rundum als auch in die Tiefe schützt. Das Konzept basiert auf Anlagensicherheit, Netzwerksicherheit und Systemintegrität nach den Empfehlungen der IEC 62443. Als erstes Unternehmen hat Siemens dafür eine TÜV SÜD-Zertifizierung für den sicheren Entwicklungsprozess von Siemens-Produkten an sieben Standorten in Deutschland erhalten.
Diese fünf Anforderungen der Kunden lassen sich in einer zeitgemäßen Fertigung und einem dementsprechenden Design- und Produktionsprozess nur dann realisieren, wenn man konsequent das Unternehmen digitalisiert.
KEM Konstruktion: Und wie setzt Siemens diese Anforderungen lösungstechnisch um?
Mrosik: Unsere Antwort auf diese Kundenanforderungen ist die Digital Enterprise Suite – ein umfassendes Portfolio an integrierter Software und Automatisierungssystemen für die diskrete Industrie. Sie umfasst den gesamten Lebenszyklus des Produkts sowie der Produktion – also Produktdesign, Produktionsplanung, Produktionsengineering, Produktion und Services. Die Basis dafür bildet Teamcenter, eine kollaborative Softwareplattform für Product Data Management und zentrales Datenbackbone. Diese Plattform vereint die Bestandteile des Product Lifecycle Managements (PLM), Manufacturing Execution System/Manufacturing Operations Management (MES/MOM) und Totally Integrated Automation (TIA). Mit Mindsphere – dem cloudbasierten, offenen Betriebssystem für das Internet der Dinge – bietet Siemens eine Plattform für Lifecycle und Data Analytics. Neben der Digital Enterprise Suite hat Siemens ein umfassendes Portfolio an industrieller Kommunikation, Sicherheitslösungen und industriellen Services. Diese vier Elemente erlauben es produzierenden Unternehmen, ihre Geschäftsprozesse durchgängig zu integrieren und zu digitalisieren – inklusive ihrer Zulieferer.
KEM Konstruktion: Gibt es für den digitalen Zwilling schon konkrete Beispiele?
Mrosik: Nehmen wir als Beispiel für einen digitalen Zwilling und die Digitalisierung über die komplette Wertschöpfungskette hinweg unseren Nanobox-Industrie-PC. Mithilfe unseres digitalen Zwillings wird der PC zunächst designt. Im nächsten Schritt können wir etwa die mechanischen Eigenschaften, Vibrationseffekte, elektromagnetische Felder oder Wärmeabfuhr in Hochtemperarturbereichen simulieren und prüfen. Erfüllt das Design die Anforderungen nicht, geht man einfach einen Schritt zurück, nimmt Änderungen vor und simuliert erneut. Das ist der Zyklus, der in sehr hoher Anzahl laufen kann, um dann letztendlich zum richtigen Design, zum richtigen Resultat zu kommen. Liegt der digitale Zwilling des Produkts vor, designen und simulieren wir im nächsten Schritt die Produktionslinie und klären unter anderem, ob die nötige Produktionskapazität vorhanden ist, um den PC in der geforderten Stückzahl zu fertigen. In der Produktionssimulation kann ich dann die Entstehung der Nanobox digital abbilden und sowohl einen Roboter- als auch einen menschlichen Arbeitsplatz simulieren. Das hilft dabei, Detailfragen zu klären – ob etwa eine Schraube richtig angebracht ist oder wie lange ein bestimmter Arbeitsschritt dauert. Das kann ich für den individuellen Arbeitsplatz simulieren, für Fertigungsumgebungen oder für ganze Fabriken.
Im nächsten Schritt wird ein PLC-Code generiert, der sich in die Steuerung, zum Beispiel unsere Simatic S7-1500, laden lässt. Eine mühselige Programmierung ist dafür nicht mehr nötig, die notwendigen Parameter lassen sich heute mithilfe des TIA Portals projektieren – und künftig automatisieren. Und wir gehen noch einen Schritt weiter. Früher hat man den PLC-Code auf einer realen Maschine getestet und geschaut, ob das Fertigungsprogramm funktioniert – das hat Monate gedauert und es bestand auch noch das Risiko eines Fehlverhaltens in der Anlage. Das ändern wir, indem wir auch einen digitalen Zwilling der Simatic bereitstellen. Der Vorteil: Die Steuerung läuft ebenfalls als digitaler Zwilling und spielt den PLC-Code auf der virtuellen Maschine ab – und testet dabei das Zusammenspiel mit dem digitalen Zwilling der Fertigung. Somit lasse ich in der virtuellen Welt den digitalen Zwilling der Steuerung mit dem digitalen Zwilling der Fertigung interagieren. Und damit kann man verifizieren, ob der Code auf der Simatic das richtige tut, ihn zudem debuggen und verbessern. Das nennen wir Virtual Commissioning, also virtuelle Inbetriebnahme.
Natürlich haben wir das nicht nur in unserer eigenen Fertigung laufen, sondern auch schon zahlreiche Kunden bei der durchgängigen Digitalisierung ihrer gesamten Wertschöpfungskette unterstützt – zum Beispiel Maserati. Das Ergebnis waren bis zu 40 Prozent kürzere Entwicklungszeiten oder eine deutliche Steigerung der Fertigungszahlen ohne Qualitätsabstriche. Und dies wie bereits erwähnt in einer Branche, bei der jedes Produkt nahezu ein Einzelstück ist – gefertigt nach den individuellen Wünschen des Autokäufers.
KEM Konstruktion: Die Digitalisierung der Produk-tion und Lösungen wie der digitale Zwilling erzeugen zwangsläufig enorme Datenmengen. Wie stellen Sie sicher, dass Unternehmen diese Datenflut sinnvoll nutzen und schnell sowie effizient auswerten können?
Mrosik: Das stellen wir mit unserem cloudbasierten, offenen IoT-Betriebssystem Mindsphere sicher. Es erlaubt Herstellern und Nutzern ganz neue Einblicke in ihre Assets, Systeme, Anlagen und Produkte. In dieser Lösung sehen wir ein Alleinstellungsmerkmal, denn Siemens bietet als einziges Unternehmen das komplette Betriebssystem an: von der einfachen und schnellen Konnektivität, der Plattform als Dienstleistung – der Platform as a Service (PaaS) – bis hin zu Apps und digitalen Services. Damit können Kunden schnell und einfach Daten aus ihren Assets beziehen, im globalen Betriebssystem verfügbar machen und diese mittels Applikationen und Analytiktools effizient aus- und verwerten. Unser Vorteil ist, dass in die Entwicklung von Mindsphere seit Beginn auch unser ganzes Wissen aus allen Branchen von Siemens einfließt – seien es Züge, Turbinen oder Fabriken.
KEM Konstruktion: Sie sehen Mindsphere also als Betriebssystem an?
Mrosik: Exakt – und es besteht aus drei Komponenten. Die erste Komponente der Lösung ist Mind Connect. Damit bieten wir einen schnellen und sicheren Anschluss jeder Art von Assets an Mindsphere an. Neben Siemens-Produkten lassen sich selbstverständlich auch die Lösungen anderer Anbieter anschließen. Mind Connect Nano beispielsweise ist eine Plug-and-Play-Lösung, die sämtliche für den Kunden relevanten Daten erfasst und in festgelegten Zeitabständen an das Betriebssystem überträgt. Das können etwa die Zustandsdaten eines einzelnen Antriebs oder einer Förderanlage sein. Die zweite Komponente ist Mindsphere selbst. Es bietet beispielsweise offene Schnittstellen für die Entwicklung kundenspezifischer Apps oder Apps von Siemens, die sogenannten Mind Apps. Diese sind die dritte Komponente: Hier werden die Daten mithilfe entsprechender Applikationen analysiert. Sie bieten den Kunden schier grenzenlose Möglichkeiten, Daten aus ihren Assets wertschöpfend einzusetzen. Um dies zu ermöglichen, verfügt Mind-sphere über sogenannte APIs (Application Programming Interfaces), auf dem jeder seine Applikationen programmieren kann – seien es Applikationsentwickler, Nutzer oder Betreiber. So lassen sich beispielsweise mit dem „Fleet Manager for Machine Tools“ weltweit verteilte Werkzeugmaschinen abbilden und managen.
Ein weiterer Vorteil ist die Nutzung von Mindsphere auf verschiedenen Cloud-Infrastrukturen, zum Beispiel von ATOS oder Microsofts Azure sowie SAP Hana CP. Siemens arbeitet auch mit anderen globalen Partnern am Ausbau relevanter Infrastrukturen zusammen. Wir wollen damit ein offenes Ökosystem schaffen, zu dem jeder beitragen beziehungsweise über das jeder seine eigenen Dienstleistungen und Applikationen anbieten kann.
KEM Konstruktion: Wenn man sich den Funktionsumfang von Mindsphere anschaut, stellt sich die Frage, ob Unternehmen überhaupt noch ein System für das Product Lifecycle Management (PLM) benötigen?
Mrosik: Ja – beides ist von Bedeutung. Wir haben auf der einen Seite die PLM-Systeme und auf der anderen Mindsphere. Was beinhaltet nun ein PLM-System? Natürlich den digitalen Zwilling, also etwa ein Modell von einem Auto und verbunden damit die modellbasierte Analytik. Mindsphere sammelt dagegen Daten aus der realen Welt – und liefert damit ergänzend zu dem analytischen Modell im PLM ein statistisches Modell. Anders formuliert, PLM beinhaltet die virtuelle Welt, Mindsphere die reale Welt. Der Clou ist nun, dass sich das statistische und das modellbasierte Abbild des Produktes abgleichen lassen. Damit können Sie mehrere Dinge tun – das Modell überprüfen und wiederum verbessern. Das ist übrigens unser Alleinstellungsmerkmal, denn wir haben den digitalen Zwilling in unserer PLM-Software und wir haben das Mindsphere-Betriebssystem – also virtuelle und reale Welt in unserem Portfolio. Mindsphere wird PLM-Systeme also nicht ablösen, sondern erweitern.

Zum Unternehmen

info

Siemens ist als Technologiekonzern in mehr als 200 Ländern vertreten. Schwerpunktmäßig ist das Unternehmen in den Gebieten Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung aktiv. Im Geschäftsjahr 2015 erzielte der Konzern einen Umsatz von 75,6 Milliarden Euro. Ende September 2015 hatte das Unternehmen weltweit circa348.000 Beschäftigte.
Unsere Whitepaper-Empfehlung
Systems Engineering im Fokus

Ingenieure bei der Teambesprechung

Mechanik, Elektrik und Software im Griff

Video-Tipp

Unterwegs zum Thema Metaverse auf der Hannover Messe...

Aktuelle Ausgabe
Titelbild KEM Konstruktion | Automation 3
Ausgabe
3.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts
Webinare

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper
Whitepaper

Hier finden Sie aktuelle Whitepaper


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de