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Expertendiskussion (Teil 1): Gleitlager oder Wälzlager?

Trendinterview Teil 1
Gleit- oder Wälzlager?

Gleit- oder Wälzlager?
Wälzlager sind noch immer präziser, aber die Gleitlager holen auf Bild: Findling
Gleitlager können teilweise die Aufgaben von einfachen Wälzlagern übernehmen. Wir haben uns mit Experten zusammengesetzt und nachgefragt, wie flexibel der Konstrukteur heute schon ist und ob der 3D-Druck auch in dieser stark präzisionsorientierten Branche schon ein Thema ist.

Interview: Tobias Meyer, freier Mitarbeiter der KEM Konstruktion

KEM Konstruktion: Kunststoffgleitlager werden immer leistungsfähiger. Hat der Konstrukteur dadurch heute die Freiheit, Gleit- und/oder Wälzlager einsetzen zu können?

René Achnitz (Igus): Das hängt natürlich immer von den Anforderungen der jeweiligen Anwendung ab. Generell kann man aber sicherlich sagen, dass Gleitlager durch ihren einfachen Aufbau häufig wartungsärmer als Wälzlager sind, Geräusche, Vibrationen und Kantenbelastungen reduzieren und eine Raumeinsparung mit sich bringen. Aber auch bei den Gleitlagern gibt es natürlich Unterschiede. Im Gegensatz zu metallischen Gleitlagern sind zum Beispiel unsere Polymer-Lager aus Iglidur schmiermittel- und wartungsfrei, besonders leicht und korrosionsfrei und helfen dabei, bis zu 40 Prozent an Kosten zu sparen.

David Haider (NKE): Prinzipiell wird das Einsatzspektrum sowohl von Wälzlagern als auch von Gleitlagern immer breiter und die Überschneidung damit größer. Trotzdem gibt es Unterschiede bezüglich Ersatzteilangebot (Standardisierung), Reibmoment, Geräuschentwicklung, Ermüdung und optimalen Einsatzbedingungen. Je nach entsprechenden Prioritäten der entsprechenden Kriterien ist relativ eindeutig ein Wälz- oder ein Gleitlager vorzuziehen. Die Prioritäten und Gewichtung dieser ist allerdings immer in der Designphase möglichst gewissenhaft durchzuführen.

Dirk Nienhüser (Schaeffler): Vor der Erfindung des Wälzlagers musste der Konstrukteur mit Gleitlagern zurechtkommen. Die Gleitlager wurden in vielen Fällen durch Wälzlager ersetzt, insbesondere begründet durch die Reibung und die definierte Ermüdungstheorie von Lundgren/Palmgren, was Wälzlager zu einem berechenbaren Maschinenelement macht. Die tiefgreifende Standardisierung von Werkstoffen und deren Leistungsgrenzen machen Wälzlager zu einem Verkaufsschlager, denn der Konstrukteur arbeitet mit einem kalkulierbaren Risiko ohne viel Aufwand – durch die hinreichenden Versuche und Spezifikationen der Wälzlagerindustrie. Gleitlager hingegen gerieten mehr und mehr in Vergessenheit und auch der Konstrukteur hat nicht das tiefgreifende Wissen, um das vielfältige Potential der Gleitlager nutzen zu können, da Standardisierung, Entwicklung und Stellenwert im Markt stark ins Hintertreffen geraten sind. Die Kunst eines Konstrukteurs ist es, die Potentiale beider Lagerarten zu kennen und gekonnt sowie gezielt einzusetzen. Somit ergänzen sich Kunststoffgleitlager und Wälzlager ideal, werden aber immer im Wettbewerb zueinander stehen.

Klaus Findling (Findling): Komplette Wahlfreiheit sehen wir derzeit noch nicht – weder in der Praxis noch in der Theorie. Die Wälzlager haben noch immer erhebliche Vorteile, gerade was Energieeffizienz betrifft. Es gibt wesentliche konstruktive Unterschiede: Das fängt mit dem Anlauf- und Reibmoment an, geht über die Wärmeabfuhr und mündet im Verschleißverhalten. Wälzlager haben hier essentielle Vorteile, die man mit Gleitlagern nicht erreichen kann. Und wenn man diese erreichen könnte, wäre die Frage, ob Gleitlager dann wirtschaftlicher wären als Rillenkugellager im speziellen. Überschneidungen sehen wir vor allem bei korrosionsempfindlichen Anwendungen. Hier haben Gleitlager erhebliche Vorteile und lösen klassische Edelstahllager ab, zumal diese von Haus aus 1/3 geringere Tragzahlen haben als baugleiche Lager aus Chromstahl. Auch die optimale Schmierung ist in feuchten Umgebungen bei Wälzlagern sehr schwierig umzusetzen. Dagegen haben Wälzlager in Hochtemperaturanwendungen deutlich die Nase vorn, denn die Druckfestigkeit nimmt hier auch bei modernsten Gleitlagern enorm ab und der Verschleiß gleichermaßen zu. Wir sehen daher vor allem dort ein Verdrängen durch Wälzlager, wo diese seit jeher mangels Alternativen mit enormen Aufwand funktionstauglich gemacht wurden.

Ralf Petersen (NSK): Die Wahlfreiheit hat der Konstrukteur teilweise in solchen Bereichen, die wir den „Commodity“-Anwendungen zurechnen, in denen also keine hohen Anforderungen an die Wälzlager gestellt werden. Wenn dann noch Umgebungsbedingungen hinzukommen, die Kunststoff begünstigen, sind Gleitlager aus unserer Sicht eine sinnvolle Alternative. Unser Geschäft wird dadurch allerdings kaum berührt, da wir unseren Fokus auf anspruchsvolle Kernzielbranchen legen. Dazu gehören etwa Werkzeugmaschinenbau, Stahlindustrie, Windenergietechnik und Bahntechnik. Hier kommen hochwertige Wälzlager zur Anwendung, die eigens für den jeweiligen Einsatzfall entwickelt wurde. Selbst Standardwälzlager erfüllen nicht die Anforderungen dieser Anwender. Hier kommt der Einsatz von Kunststoffgleitlagern daher nicht in Frage.

Holger Dietz (Oiles): Wir sind Entwickler, Hersteller und Vertreiber von selbstschmierenden, wartungsfreien Gleitlagern für fast alle Industriebereiche. Zu unserem Portfolio gehören keine Wälzlager, weshalb wir zu dieser Technologie auch keine tiefergehenden Aussagen abgeben möchten. Jedoch ist festzuhalten, dass es für Wälz- und Gleitlager teils sehr stark unterschiedliche Einsatzbedingungen gibt und nur in einem recht kleinen Bereich überlappen diese sich: Bestimmte Rahmenbedingungen erfordern Wälzlager, andere Rahmenbedingungen erfordern Gleitlager. Nur in wenigen Fällen könnte man beide Varianten als Alternative verwenden.

KEM Konstruktion: Sind durch die immer stärker verbreitete additive Fertigung (3D-Druck) auch individuell angefertigte Lagerlösungen denkbar?

Achnitz (Igus): Individuelle Gleitlagerlösungen sind nicht nur denkbar, sondern bei Igus bereits seit über 35 Jahren Realität – auch jenseits des 3D-Drucks. So werden bei uns beispielweise für kundenspezifische Großserien eigene Spritzgusswerkzeuge hergestellt. Aber natürlich eröffnet die additive Fertigung dem Kunden neue kostengünstige Möglichkeiten, vor allem im Bereich der Prototypen und Kleinserien. Inzwischen haben wir sechs verschiedene Tribo-Filamente im Programm sowie zwei Pulver für das selektive Lasersintern. In Versuchen in unserem Testlabor konnten wir zeigen, dass die gedruckten Teile dabei nicht nur deutlich verschleißfester sind als Standard-ABS-Materialien, sondern diesbezüglich auch mit gespritzten Teilen vergleichbar sind. Zudem gibt es bei uns die Möglichkeit, Spritzgussformen additiv zu fertigen. Dadurch muss für Serien bis 500 Stück kein eigenes metallisches Werkzeug hergestellt werden. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch deutlich an Kosten.

Haider (NKE): Da vor allem die Funktionsflächen eines Wälzlagers eine sehr hohe Fertigungspräzision benötigen, um eine entsprechende Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, wird es noch längere Zeit dauern, bis komplette Lager aus einem 3D-Druck-Fertigungsprozess ohne gröbere Nachbearbeitung angeboten werden können. Außerdem sind die benötigten Materialeigenschaften der Wälzkörperstähle zumindest momentan noch nicht im 3D-Druck umzusetzen. Auch für Einzelbedarf wie Sonderlager oder dringenden Ersatzteilbedarf zeichnet sich aus unserer Sicht aktuell noch keine Lösung ab. Für Umgebungskonstruktion und Käfig wird sich der 3D-Druck für den individuellen Bedarf aber relativ zügig durchsetzen.

Rudy (Schaeffler): Die additive Fertigung ist ein strategisches Schwerpunktthema bei Schaeffler. Diese Technologie bietet grundsätzlich nicht nur die Option der Stückzahl 1 und damit individuell hergestellte Lager, sondern konstruktiv und werkstofftechnisch ganz neue Möglichkeiten. Bereits seit Ende 2016 kooperieren wir mit DMG Mori auf dem Gebiet der additiven Fertigung von (Wälz-)Lagerkomponenten. Basis für die gemeinsame Entwicklungsarbeit ist ein Fünfachs-Bearbeitungszentrum mit integrierter Laserstrahl-Auftragschweißeinheit, das bei Schaeffler erprobt wird. Unser Ziel ist es, das Verfahren so weiterzuentwickeln, dass es zur flexiblen Herstellung von (Wälz-)Lagerkomponenten für Prototypen und für kleine Losgrößen eingesetzt werden kann. Hierbei stehen neben Prozessthemen auch die eingesetzten Werkstoffe und deren Ertüchtigung im Fokus. Ein Vorteil des Verfahrens: Es besteht die Möglichkeit, den Übergang zwischen zwei Werkstoffen gezielt zu steuern. Dadurch entstehen sogenannte gradierte Materialien. Zähigkeit und Härte lassen sich im Aufbauprozess so regulieren und optimal auf die spezifischen Anforderungen abstimmen. Die Rohteile können außerdem direkt nach dem Auftragschweißen endbearbeitet werden, damit ist das Verfahren auch für eine Serienfertigung industrietauglich. Der klassische 3D-Druck von Metalllegierungen bietet vor allem das Potenzial, durch Hohlräume und Hinterschneidungen beträchtlich Material und Gewicht einzusparen. Insbesondere die Umgebungskonstruktion um die Lagerringe herum lässt sich damit völlig neu denken. Konstruktionen mit Dünnringlagern stehen hier im Fokus. Deren – im Vergleich zu Standard-Wälzlagern – geringere Tragfähigkeit deckt sich sehr gut mit der Tragfähigkeit hohler Strukturen. Weiteres Potenzial sehen wir für Hohlräume in speziellen Wälzlageranwendungen, etwa im Turbinenbau. Nur mit generativen Verfahren sind Wälzlagerringe mit integrierten Kühlkanälen überhaupt technisch herstellbar. Bei Kunststoffgleitlagern lassen sich durch die additive Fertigung ideal Schmiernuten und Schmiertaschen formen, welche eine ganz neue Leistungsdimension von Kunststoffgleitlagern ermöglichen.

Dietz (Oiles): Unsere Gleitlager werden aus verschiedensten Materialien hergestellt, wobei Kunststoff aber nur einen kleineren Anteil am Gesamtvolumen hat. 3D-Druck-Technologie wird von uns aktuell noch nicht eingesetzt. Dennoch sind wir der Spezialist für individuelle, gemeinsam mit Endkunden entwickelte Sonderlösungen ab Losgröße 1. Der Großteil unserer Produkte sind Sonderanfertigungen, teils nach Kundenzeichnung, teils in enger Kooperation mit unseren Technikern entwickelt. Entsprechend aufgestellte Prozesse vom Design bis zur Produktion und Logistik ermöglichen eine hohe Individualisierung.

www.findling.com

www.igus.de

www.nke.at

www.nsk.com

www.oiles.de

www.schaeffler.de


„Individuelle Gleitlagerlösungen sind bei Igus bereits seit über
35 Jahren Realität – auch jenseits des 3D-Drucks.“

René Achnitz, Leiter Geschäftsbereich Iglidur Gleitlager, Igus GmbH
Bild: Igus

„Je nach entsprechenden Prioritäten der entsprechenden Kriterien ist relativ eindeutig ein Wälz- oder ein Gleitlager vorzuziehen. Die Prioritäten und Gewichtung dieser ist allerdings immer in der Designphase möglichst gewissenhaft durchzuführen.“

David Haider, Anwendungstechniker, NKE Austria GmbH
Bild: NKE

„Bestimmte Rahmenbedingungen erfordern Wälzlager, andere Gleitlager. Nur in wenigen Fällen könnte man beide Varianten als Alternative verwenden.“

Holger Dietz, Teamleader Industry / Key Account Manager, Oiles Deutschland GmbH
Bild: Oiles

„Überschneidungen sehen wir vor allem bei korrosionsempfindlichen Anwendungen. Hier haben Gleitlager erhebliche Vorteile und lösen klassische Edelstahllager ab.“

Klaus Findling, Geschäftsführer, Findling Wälzlager GmbH
Bild: Findling

„Die Wahlfreiheit hat der Konstrukteur teilweise in Bereichen, in denen keine hohen Anforderungen an die Wälzlager gestellt werden. Wenn dann noch Umgebungsbedingungen hinzukommen, die Kunststoff begünstigen, sind Gleitlager eine sinnvolle Alternative.“

Ralf Petersen, Engineering Manager Industrial, NSK Deutschland GmbH
Bild: NSK

„Wir kooperieren mit DMG Mori auf dem Gebiet der additiven Fertigung von Wälzlagerkomponenten: Der Übergang zwischen zwei Werkstoffen kann gezielt gesteuert werden, Zähigkeit und Härte lassen sich so regulieren und auf die spezifischen Anforderungen abstimmen.“

Dietmar Rudy, Leiter Zentrale Technik Industrial Automation, Schaeffler AG
Bild: Schaeffler
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