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Lenze-Technikchef Maier zu Industrie 4.0

Automatisierung/Antriebstechnik
Lenze-Technikchef Maier zu Industrie 4.0

Der Elektrotechnik-Ingenieur Frank Maier ist als Technik-Chef von Lenze ein profunder Kenner der Entwicklungen in der Antriebs- und Automatisierungsbranche. Die KEM Konstruktion sprach mit ihm über die Bedeutung von Industrie 4.0 und des Mooreschen Gesetzes für die Automatisierungsindustrie.

 

Interview: Michael Corban, Chefredakteur KEM Konstruktion

KEM Konstruktion: Herr Maier, bereits zu Beginn der Industrie-4.0-Diskussion sagten Sie: „Ich messe die Welt wird nicht genügen – ich kenne die Welt ist das Ziel!“ Ist das immer noch die Sicht von Lenze, dass immer mehr Sensorik allein nichts nützt?
Maier: Das ist sie immer noch – und sie wird es auch langfristig bleiben. Die beiden Positionen, die sich gegenüber stehen sind einerseits ‚Ich messe die Welt‘ – also die komplett sensorbasierte Erkennung der Welt – und ‚Ich kenne die Welt‘ – komplett modellbasiert; ich modelliere etwas und leite daraus Entscheidungen ab. Wie immer finden wir in Wirklichkeit eine Mischform und natürlich wird über der Zeit die Bedeutung der Sensorik zunehmen. Aber der Glaube, wir würden innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre – also sehr kurzfristig – komplett auf Sensorik umstellen, den halte ich für irreal. Aus zwei Gründen: Es steigen dadurch hardwareseitig die Kosten und die Komplexität der Einbindung. Und auch die Frage, wie viele Sensorsignale ich vernünftigerweise auf mein Netzwerk schalten und tatsächlich verarbeiten kann, spielt eine Rolle – da werden wir noch viel lernen müssen. Denken Sie etwa an das Thema Systemintegration, eine neue Qualität von Plug&play – das alles muss noch entwickelt werden. Deswegen denke ich, dass die modellbasierte Welt mit Unterstützung der Sensorik weiterführt. Will heißen: Ich frage zunächst, welche Sachverhalte ich bereits kenne und greife zu Sensoren, wenn meine Modelle an ihre Grenzen stoßen. Das halte ich nach wie vor für den Weg, der die nächsten Jahre prägen wird.
KEM Konstruktion: Lässt sich die Netzwerklast nicht dadurch senken, dass die Daten schon auf dem Sensor vorverarbeitet und nur relevante Informationen versendet werden?
Maier: Das setze ich voraus – die rohen Daten der Signale im Rahmen der klassischen Automatisierungspyramide in höhere Softwareebenen wie das MES oder sogar das ERP zu laden, halte ich für völligen Unsinn. Eine Datenkonzentration vor Ort ist Pflicht. Damit verbunden ist zudem der Schutz des geistigen Eigentums. Wenn ich dezentral vor Ort Daten zur Information verdichte, dann schütze ich damit auch mein geistiges Eigentum – die Daten selber haben ja keinen Wert, das Know-how steckt in den Algorithmen zur Datenverarbeitung. Das ist also ein ganz einfacher Schutzmechanismus. Um aber zurück zum Thema zu kommen: Um Daten oder Informationen zu übertragen, muss ein Netzwerk-Knoten angebunden werden – hier wird man vorranging die Stellen wählen, an denen sich schon ein Knoten befindet. Und um ganz konkret zu werden: Betrachte ich einen Getriebemotor oder eine Servoachse, stecken da heute schon eine ganze Menge Sensoren drin. Jedes Rückführungssystem ist am Ende des Tages ein Sensor. Dieser Weg wird weiter ausgebaut werden. Natürlich gibt es darüber hinaus auch sehr hochwertige Sensoren wie Kameras oder Mustererkennungssysteme, die an Bedeutung gewinnen, da sie menschliche Intelligenz beziehungsweise kognitive Fähigkeiten emulieren müssen. Da lohnt es sich dann aber auch, das Netzwerk hinzuführen.
KEM Konstruktion: Das heißt, schon heute steckt eigentlich genug Sensorik in den Produkten…
Maier: …exakt, und die Frage lautet eher: Wie bekomme ich bestimmte Informationen – die vorliegen! – da hin, wo ich sie brauche. Auf der letzten SPS IPC Drives haben wir dazu ja ein System vorgestellt, bei dem wir anstelle eines elektronischen Typenschildes eines mit einem RFID-Tag versehen haben – ein auch kostenseitig gangbarer Weg für Standard-Drehstrommotoren. Auf diese Weise lässt sich beispielsweise sehr einfach ein selbstparametrierender Umrichter realisieren. Dazu kann der Anwender das Motor-Typenschild per Near Field Communication mit einem NFC-fähigen Smartphone auslesen, anschließend die Motorparameter über die Lenze-App herunterladen und schließlich per WLAN in den Frequenzumrichter überspielen. Der Punkt ist: Nun liegen bestimmte Informationen in meinem Umrichter – bis hin zu einem sehr genauen Motormodell. Statt ‚nur‘ etwas zu messen und ein Signal zu übertragen, bieten sich damit eine ganze Menge zusätzlicher Möglichkeiten: Modelle lassen sich bilden, was mich wiederum zu richtigen Ableitungen führen kann.
KEM Konstruktion: Womit wir dann auch automatisch bei dem Thema digitaler Zwilling landen?
Maier: Da steckt der digitale Zwilling drin! Wobei die Idee eigentlich eine Emulation des elektronischen Typenschilds ist. Denn ein elektronisches Typenschild würde ja bedeuten, dass ich einen Netzwerkknoten hinführen muss – aber nur, um dem Umrichter ein einziges Mal zu sagen, um welchen Motor es sich handelt. Genaugenommen ist das eine Verschwendung. Also mache ich das Ganze wie erwähnt lieber einmal bei der Installation. Dazu kommt: Die Parameter des Motors ändern sich über die Lebenszeit des Motors hinweg so wenig, dass ich den Mehrwert einer Überwachung per Sensor nicht sehe. Viele Fehlermechanismen lassen sich ja über Sekundärparameter erkennen. Nehmen wir ein Beispiel: Ich kann natürlich zur Erkennung von Getriebeverschleiß Sensoren verwenden, die Vibrationen messen – und damit feststellen, ob möglicherweise die Verzahnung ein Problem bekommt. Ich kann aber auch einfach auf den Strom im Motor schauen – wird die Verzahnung schlechter, steigt der Strom an. Mit solchen Mechanismen kann ich über Modelle und die Überwachung sekundärer Parameter – idealerweise solche, die ich sowieso schon erfasse – Fehlermechanismen erkennen und präventiv abstellen. Wichtig ist es dabei aber auch immer, die ökonomische Seite zu betrachten. Mit anderen Worten: Ich glaube, wir können heute technisch schon Lösungen realisieren, die sich einfach nicht rechnen – weil die technische Welt schneller vorankommt als die ökonomische.
KEM Konstruktion: Wie weit reicht denn der Nutzen der angesprochenen Modelle?
Maier: Auch die müssen natürlich weiterentwickelt werden. Heute schon lassen sich aber funktionale Simulationsmodelle ganzer Fabriken als digitaler Zwilling aufbauen – unser Kunde Viastore kann beispielsweise ein komplettes Lager simulieren und lädt anschließend das Modell in die Steuerung; das ist also gleichzeitig auch die Run-time-Version der Steuerung des Warenflusssystems. Das funktioniert! Was noch nicht funktioniert, ist die Emulation, ob ein Antrieb eine Rampe ruckfrei abfährt – dafür sind die Modelle noch nicht abstrakt und standardisiert genug. Nicht zuletzt müssen dazu ja auch die Daten aller Lieferanten eingebunden werden. An dieser Stelle stößt man zudem an die Grenzen der Rechenleistung – ich glaube, dass das Mooresche Gesetz sich derzeit deutlich verlangsamt.
KEM Konstruktion: Wird das nicht durch die Entwicklung der Mehrkernprozessoren aufgefangen?
Maier: Mehrkernprozessoren bedeuten ja trotzdem, dass man mehr Transistoren benötigt – diese also auf einem Chip integriert werden müssen. Und hier ist in letzter Zeit die Menge an Transistoren dramatisch gestiegen. Gleichzeitig ergibt sich aber ein ökonomisches Problem: Wer finanziert die Entwicklung entsprechend hochintegrierter Chips – wenn sich Computer, Spielekonsolen oder mobile Geräte in einer Phase der Sättigung befinden? Sollte sich also das Mooresche Gesetz nicht nur verlangsamen sondern in zehn oder 15 Jahren sogar brechen – keiner weiß das, aber nehmen wir es einmal an –, müsste man sich auch in Strukturen wie Industrie 4.0 Gedanken machen, wie Funktionen verteilt werden. Alles nach oben ‚zu spülen‘, wird meiner Erwartung nach dann ein Ende haben.
KEM Konstruktion: Welche Bedeutung hat denn neben dem digitalen Zwilling einer ganzen Fabrik der eines einzelnen Antriebs?
Maier: Für einen Verpackungsmaschinenhersteller steht natürlich die Simulation des Antriebsstrangs klar im Vordergrund. Er will die Integration in seine Maschine absichern (siehe Kasten Riemenkinematik). Das ist das Umfeld, in dem sich auch Lenze bewegt, hier dominiert der digitale Zwilling der Kinematik. Wir arbeiten daran, bestimmte Kinematiken als digitalen Zwilling aufzubauen und sukzessive zu verifizieren – bei uns sind das die von uns angebotenen zwölf Antriebs-Maschinenfunktionen. Dabei müssen wir uns durchaus mit sehr komplexen Kinematiken auseinander setzen – etwa der von Robotern oder auch schlaffen Riemen, die eine echte Herausforderung sind. Die Ergebnisse geben wir unseren Kunden dann natürlich auch an die Hand, beispielsweise in Form unseres Drive Solution Designers, kurz DSD, einem Werkzeug zur Auslegung von Antrieben. Damit lässt sich der Antriebsstrang dimensionieren und der Energieverbrauch berechnen, Modell und Realität stimmen schon ganz gut überein. Einige sehr komplexe Kinematiken können wir auf diesem Wege allerdings nicht anbieten, weil dann spezielles Know-how gefragt ist – hier ist unser Service gefragt, wir sind dann Dienstleister und simulieren das mit dem Kunden gemeinsam.
KEM Konstruktion: Handelt es sich bei der DSD-Software um eine Eigenentwicklung oder setzen Sie auch auf Standardsoftware zur Modellierung physikalischer Systeme?
Maier: Beides – wenn es um die Antriebsdimensionierung geht, erstellen wir bestimmte Algorithmen lieber selber. Natürlich nutzen wir aber auch Tools wie Matlab Simulink für die regelungstechnischen Modelle oder SimulationX von ESI ITI wenn es darum geht, Mechanik zu simulieren. An dem Antriebsstrang ‚hängt ja etwas dran‘ – das gilt es natürlich auch zu simulieren. Und für thermische Simulationen nutzen wir Icepak von Ansys oder Flowtherm von Mentor Graphics. Bezüglich der elektromagnetischen Verträglichkeit existiert so etwas in Ansätzen, aber da gibt es sicher noch Raum für Verbesserug. In der Summe können wir also über die Simulation schon sehr gut prognostizieren, wie sich das Gerät tatsächlich verhält. Im Bereich Innovation haben wir beispielsweise einen Umrichter mit Siliziumkarbid-MOSFETs gebaut – was den Vorteil hat, dass man viel höhere Leistungsdichten erreicht und damit wesentlich kleiner bauen kann. Das Material hält mehr aus und ist wesentlich schneller als IGBTs. Die Thermik haben wir dabei gut im Griff, durch die steilen Flanken ist aber die elektromagnetische Verträglichkeit deutlich kritischer! Die ersten, die wir gebaut haben, waren bezüglich ihrer EMV-Charakteristik verheerend.
KEM Konstruktion: Lassen Sie uns abschließend einen Blick auf das Verhältnis von Mechanik und Elektrotechnik zu Software werfen. Wie viel Software steckt inzwischen in ihren Produkten?
Maier: Software und Firmware zusammen machen zwischen 30 und 40 Prozent aus. Softwarekompetenz ist für Lenze entscheidend, wobei die Anforderungen an das Softwareverständnis, an die Architektur nach wie vor enorm hoch sind. Mit Blick auf die verschiedenen Branchen, die wir adressieren, steckt das Ergebnis in unserer FAST Application Software Toolbox. Mit entsprechenden Softwarebibliotheken werden wesentliche Maschinenfunktionen abgedeckt, die sich per Plug&play in die Steuerung übernehmen lassen. Um es etwas ironisch zu sagen: Am Ende des Tages ist das ein Versuch, in der steinzeitlichen 61131-Steuerungswelt eine Art Objekt-Orientierung zu realisieren – indem wir versuchen, Funktionen als Objekt zu kapseln. Dieser Prozess war ganz spannend, da wir an dieser Stelle unsere Applikationsentwickler aus der PLC-Welt mit den Softwareentwicklern zusammengebracht haben – nur auf diese Weise ließ sich die Kundenapplikationssicht sauber abbilden. Der Vorteil für den Anwender ist: Muss er ansonsten 80 Prozent seiner Zeit in das grundlegende Software-Engineering stecken, genügen ihm mit FAST 20 Prozent – er gewinnt also Zeit für die eigentliche Wertschöpfung mit seinem Kern-Know-how.
KEM Konstruktion: Die Themen bleiben vielfältig und spannend – Herr Maier, wir danken für das ausführliche Gespräch.

Kontakt

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info

Lenze SE, Aerzen
Tel. +49 5154 82-0
SPS IPC Drives: Halle 1, Stand 360
Details zur FAST Application Software Toolbox:
http://t1p.de/e1fl

Digitaler Zwilling: Riemenkinematik

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PLUS

Lenze arbeitet daran, bestimmte Kinematiken als digitalen Zwilling aufzubauen und zu verifizieren – wie hier am Beispiel der Riemenkinematik zu sehen. Damit lässt sich die Integration in die Maschine absichern, etwa bei Punkt-zu-Punkt- sowie bahngesteuerten Bewegungen mit hoher Taktrate wie beispielsweise beim Bestücken, Sortieren, Kleben, Schneiden oder Verpacken. Erreichen lassen sich auf diese Weise eine hohe Dynamik im Vergleich zu anderen Portalkinematiken sowie ein geringerer Einbauraum durch flaches Design und hohe Nutzlasten.
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